George Orr lag reglos auf der Couch, atmete unregelmäßig, und die Blutergüsse und Schnittwunden in seinem Gesicht sahen durch die Blässe besonders häßlich aus. Asche und Rauch wurden immer noch mit der kalten, beißenden Nachtluft durch das zerschmetterte Fenster hereingeweht. Nichts hatte sich verändert. Er hatte noch nichts rückgängig gemacht. Hatte er überhaupt schon etwas beeinflußt? Unter den geschlossenen Lidern konnte man eine schwache Bewegung der Augen erkennen; er träumte noch; er konnte gar nicht anders, da der Verstärker die Impulse seines eigenen Gehirns überlagerte. Warum veränderte er nicht die Kontinuen, warum brachte er sie nicht in eine friedliche Welt, wie Haber es ihm befohlen hatte? Die hypnotische Suggestion war nicht klar oder stark genug gewesen. Sie mußten noch einmal von vorn anfangen. Haber schaltete den Verstärker ab und sprach Orrs Namen dreimal aus.
»Richten Sie sich nicht auf, Sie sind immer noch an den Verstärker angeschlossen. Was haben Sie geträumt?«
Orr, der noch nicht ganz wach zu sein schien, sprach heiser und langsam. »Der … ein Außerirdischer war hier. Hier drin. Im Büro. Er kam aus dem Bug eines ihrer hüpfenden Schiffe. Zum Fenster rein. Sie und er haben sich unterhalten.«
»Aber das ist kein Traum! Das ist passiert! Gottverdammt, wir müssen es noch mal machen. Vor ein paar Minuten, das könnte eine Atombombenexplosion gewesen sein, wir müssen in ein anderes Kontinuum, womöglich sind wir schon alle an der Strahlenkrankheit gestorben.«
»Oh, diesmal nicht«, sagte Orr, setzte sich auf und kämmte die Elektroden aus seinem Haar, als wären sie tote Läuse. »Natürlich ist es passiert. Ein wirkungsvoller Traum ist eine Realität, Dr. Haber.«
Haber sah ihn an.
»Ich nehme an, Ihr Verstärker hat die Unmittelbarkeit für Sie beschleunigt«, sagte Orr immer noch ungewöhnlich ruhig. Er schien eine Weile nachzudenken. »Hören Sie, könnten Sie in Washington anrufen?«
»Wozu?«
»Na, weil man auf einen angesehen Wissenschaftler, der sich mitten im Geschehen befindet, vielleicht hören wird. Die werden nach Erklärungen suchen. Gibt es jemanden bei der Regierung, den Sie kennen, den Sie anrufen könnten? Vielleicht den Gesundheitsminister? Sie könnten ihm sagen, daß die ganze Angelegenheit ein Mißverständnis ist, daß die Außerirdischen weder eine Invasion noch einen Angriff geplant hatten. Bis zu ihrer Landung war ihnen schlicht und einfach nicht bewußt, daß Menschen ausschließlich auf verbale Kommunikation angewiesen sind. Sie haben nicht einmal gewußt, daß wir dachten, wir würden uns im Krieg mit ihnen befinden … Wenn Sie das jemandem sagen könnten, der das Vertrauen des Präsidenten genießt. Je schneller Washington das Militär zurückpfeifen kann, desto weniger Menschen werden hier getötet. Es sind nur Zivilisten, die sterben. Die Außerirdischen tun den Soldaten nichts, sie sind nicht einmal bewaffnet, und ich habe den Eindruck, in diesen Schutzanzügen sind sie unverwundbar. Aber wenn niemand die Luftwaffe aufhält, wird sie die ganze Stadt vernichten. Versuchen Sie es, Dr. Haber. Vielleicht hört man auf Sie.«
Haber spürte, daß Orr recht hatte. Es war bar jeglicher Vernunft, es war die Logik des Wahnsinns, aber hier hatte er sie: seine Chance. Orr redete mit der unverrückbaren Überzeugung des Traums, in dem es keinen freien Willen gibt: Machen Sie das, Sie müssen dies und das machen, es muß getan werden.
Warum war diese Gabe einem Narren gegeben worden, einem passiven Nichts von einem Mann? Warum war Orr so sicher und so überzeugt, während der starke, tatkräftige, positive Mann ohnmächtig und gezwungen war, zu versuchen, das armselige Werkzeug zu benutzen, ihm sogar zu gehorchen? Das alles ging ihm durch den Kopf, und nicht zum erstenmal, aber gleichzeitig ging er zu seinem Schreibtisch, zum Telefon. Er setzte sich und wählte die Nummer des Gesundheitsministeriums in Washington. Der Anruf, der über die Relais von Federal Telephone in Utah weitergeleitet wurde, konnte übermittelt werden.
Während er darauf wartete, daß er zum Minister für Gesundheit, Bildung und Soziales durchgestellt wurde, den er recht gut kannte, sagte er zu Orr: »Warum haben Sie uns nicht in ein anderes Kontinuum versetzt, wo dieses Schlamassel einfach nie passiert ist? Das wäre viel einfacher gewesen. Und niemand wäre gestorben. Warum sind Sie die Außerirdischen nicht einfach losgeworden ?«
»Ich entscheide nicht«, sagte Orr. »Begreifen Sie das immer noch nicht? Ich folge.«
»Sie folgen meinen hypnotischen Suggestionen, ja, aber niemals vollständig, niemals direkt und einfach —«
»Die habe ich nicht gemeint«, sagte Orr, aber dann war Rantows Privatsekretärin in der Leitung. Während Haber redete, schlich sich Orr hinaus, zweifellos nach unten, um nach der Frau zu sehen. Das ging klar. Während er mit der Sekretärin und dann mit dem Minister sprach, kam Haber zur Überzeugung, daß jetzt alles gut werden würde, daß die Außerirdischen wirklich vollkommen nichtaggressiv waren und er Rantow davon überzeugen konnte, und über Rantow auch den Präsidenten und dessen Generäle. Orr war jetzt überflüssig. Haber sah, was getan werden mußte, und würde sein Land aus dem Schlamassel herausführen.
Wer vom Jubel träumt, wird mit Wehklagen erwachen.
Lao-tse , II
Es war die dritte Woche im April. Orr hatte letzte Woche mit Heather Lelache ausgemacht, daß sie sich am Donnerstag im Dave’s zum Mittagessen treffen würden, aber als er sich von seinem Büro auf den Weg machte, wußte er schon, daß nichts daraus werden würde.
Inzwischen besaß er so viele verschiedene Erinnerungen, so viele Schicksalsfäden an Lebenserfahrung, die in seinem Kopf durcheinanderwirbelten, daß er kaum noch versuchte, sich an irgend etwas zu erinnern. Er nahm alles, wie es kam. Er lebte, fast wie ein kleines Kind, ausschließlich im aktuellen Geschehen. Nichts, und alles, konnte ihn überraschen.
Sein Büro lag im dritten Stock der Öffentlichen Planungsbehörde; seine Position war eindrucksvoller als jede, die er vorher gehabt hatte: Er hatte die Leitung der für die Vorstadtparks Südost zuständigen Abteilung der Städtebaukommission. Er mochte seinen Job nicht, hatte ihn nie gemocht.
Es war ihm stets gelungen, eine Art Bauzeichner zu bleiben, bis zu dem Traum am vergangenen Montag, durch den die Bundesregierung und die Verwaltung der Bundesstaaten, damit sie einem Plan Habers entsprachen, so gründlich durcheinandergewirbelt wurden, daß es zu einer Neuorganisation des gesamten sozialen Systems kam und er als städtischer Bürokrat endete. In all seinen Leben hatte er nicht einen einzigen Job gehabt, der tatsächlich seinen Wünschen entsprochen hätte; er wußte, er war am besten im Entwerfen, im Erfinden von angemessenen und zweckdienlichen Formen von Gegenständen, aber diese Begabung war in keiner seiner zahlreichen Existenzen gefragt gewesen. Doch dieser Job, den er (jetzt) seit fünf Jahren hatte und verabscheute, lag vollkommen außerhalb seiner Interessen. Und das erfüllte ihn mit Besorgnis.
Bis zu dieser Woche hatte es eine essentielle Kontinuität, eine Kohärenz zwischen allen Existenzen gegeben, die auf seinen Träumen basierten. Er war immer eine Art Bauzeichner gewesen, hatte stets in der Corbett Avenue gelebt. Selbst in dem Leben, das auf den Betonstufen eines ausgebrannten Hauses in einer verwüsteten Stadt auf einer sterbenden Welt zu Ende gegangen war, selbst in diesem Leben hatte die Kontinuität angehalten, bis es keine Jobs und keine Häuser mehr gab. Und quer durch alle anschließenden Träume oder Leben hindurch, waren viele bedeutende Sachverhalte ebenfalls gleich geblieben. Er hatte das lokale Klima ein wenig verändert, aber nicht sehr, und der Treibhauseffekt, das dauerhafte Erbe der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, war geblieben. Die Geographie blieb unverändert: Kontinente lagen weiterhin dort, wo sie hingehörten. Ebenso die Grenzen der Nationalstaaten; die menschliche Natur änderte sich nicht, und so weiter. Falls Haber ihm suggeriert haben sollte, ein edleres Menschengeschlecht herbeizuträumen, war der Erfolg bislang ausgeblieben.
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