Doch das größte Hospital für ETs in der Galaxis würde nicht vollkommen untergehen, jedenfalls nicht in den nächsten paar Tagen oder Wochen. Das Korps hatte zwar keine Erfahrung in interstellaren Kriegen, denn der sich hier anbahnende Krieg war immerhin der erste, doch glaubten die Monitore zu wissen, was sie erwartete. Unter den Schiffsbesatzungen wurde mit starken Verlusten gerechnet. Die eingelieferten überlebenden Opfer würden in erster Linie unter Dekompression, Knochenbrüchen und Strahlenverseuchung leiden. Man glaubte, daß zwei oder drei Ebenen zu ihrer Versorgung ausreichen müßten; sollte das Gefecht mit Nuklearwaffen geführt werden — und es gab keinen Grund für eine gegenteilige Annahme —, dann wären die meisten Verwundeten nämlich gleichzeitig auch unheilbar strahlenverseucht. Zynisch ausgedrückt, bestand für das Orbit Hospital also zumindest keine Überffülungsgefahr.
Sobald die Streitkräfte des Imperiums angreifen sollten, würde sich der mit der Evakuierung eingesetzte innere Zerfall außen am Bauwerk fortsetzen. Conway war zwar kein Militärstratege, aber er konnte sich nicht vorstellen, wie dieses gewaltige, beinahe leere Hospital überhaupt verteidigt werden sollte. Es stellte für seine Angreifer eine leichte, wenn auch nicht lohnenswerte Beute dar, weil nur ein großer, eingeschmolzener, zerbombter Metallfriedhof übrigbleiben würde.
Plötzlich wurde Conway von einer ungeheuer starken Gefühlswelle übermannt: Niedergeschlagenheit, Traurigkeit und eine Woge von purem Zorn ließen ihn am ganzen Körper zittern. Als er aus der Station hinausstolperte, wußte er nicht, ob er heulen, fluchen oder jemanden niederschlagen sollte. Aber die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als er um die Ecke in den zur Abteilung der PVSJs führenden Gang einbog und heftig mit Schwester Murchison zusammenprallte.
Der Zusammenstoß war nicht schmerzhaft, denn einer der beiden kollidierenden Körper war hinreichend mit stoßdämpfendem Material ausgestattet. Die Kollision war aber stark genug, um Conways Verstand von einem sehr finsteren Gedankengang auf einen unendlich erfreulicheren zu bringen. Plötzlich war Conways Verlangen, Murchison anzusehen und mit ihr zu reden, genauso groß wie vorher der Drang, seine Patienten zu besuchen. Der Grund war derselbe — vielleicht sah er sie zum letztenmal in seinem Leben.
„En. entschuldigen Sie“, stotterte Conway und trat zurück. Dann erinnerte er sich an ihre letzte Begegnung und sagte: „Ich war neulich nach meiner Rückkehr in der Schleuse etwas in Eile und konnte deshalb nicht viel sagen. Sind Sie im Dienst?“
„Ich hab gerade Feierabend“, antwortete Murchison in neutralem Ton.
„Ach, wirklich.?“ entgegnete Conway etwas unbeholfen und stammelte dann: „Ich hab mich nämlich gefragt. ich meine, hätten Sie vielleicht Lust.“
„Also, ich hätte nichts dagegen, schwimmen zu gehen“, erwiderte sie.
„Na prima“, freute sich Conway.
Sie gingen zum Freizeitbereich hoch, zogen sich um und trafen sich wieder im Innern auf dem künstlichen Strand. Als sie zum Wasser gingen, sagte Murchison plötzlich: „Oh, was ich Sie noch fragen wollte, Doktor: Als Sie mir diese Briefe geschickt haben, sind Sie dabei eigentlich nie auf die Idee gekommen, sie in Umschläge mit meinem Namen und meiner Zimmernummer zu stecken?“
„Damit alle gleich gewußt hätten, daß ich Ihnen geschrieben hab?“ fragte Conway. „Ich hab gedacht, so was wollen Sie nicht.“
Murchison schnaubte damenhaft. „Also, das System, das Sie sich ausgedacht haben, war ja auch nicht gerade geheim“, entgegnete sie, wobei ihre Stimme leicht verärgert klang. „Thornnastor von der Pathologie hat schließlich drei Münder, und ich schaffe es nicht einmal, daß er auch nur einen davon hält. Es waren ja wirklich nette Briefe, aber nach meinem Empfinden sind die Rückseiten von Testberichten über Auswurf nicht gerade angebracht für.!“
„Tut mir leid“, entschuldigte sich Conway. „Soll nicht wieder vorkommen.“
Mit diesem Wortwechsel kehrte wieder die düstere Stimmung zurück, die Murchisons Anblick aus seinen Gedanken vertrieben hatte. Es würde ganz sicher nicht wieder vorkommen, dachte Conway betrübt, nie wieder. Die heiße, künstliche Sonne schien seine Haut nicht so zu wärmen, wie er es in Erinnerung hatte, auch das Wasser war nicht mehr so prickelnd kalt, und selbst unter den Schwerkraftverhältnissen von einem halben Ge war das Schwimmen für ihn eher ermüdend als belebend. Es kam ihm so vor, als wäre sein Körper in einen dichten Schleier von Müdigkeit gehüllt, der sämtliche Gefühle betäubte. Nach nur wenigen Minuten schwamm er ins flache Wasser zurück und watete an den Strand. Murchison folgte ihm mit besorgter Miene an Land.
„Sie sind dünner geworden“, stellte sie fest, als sie ihn eingeholt hatte.
Conways erster Gedanke war zu antworten: „Sie aber nicht“, doch Murchison hätte das beabsichtigte Kompliment falsch verstehen können. Und als Gesellschaft war er zum gegenwärtigen Zeitpunkt so schon miserabel genug, da mußte er es nicht auch noch riskieren, sie zu beleidigen.
Plötzlich hatte er eine Idee und sagte schnell: „Ich hab ganz vergessen, daß Sie ja gerade erst Feierabend gemacht und noch nichts gegessen haben. Wollen wir ins Restaurant gehen?“
„O ja, bitte“, antwortete Murchison begeistert.
Das Restaurant thronte hoch oben auf der Klippe, gegenüber den Vorsprüngen, die als Absprungschanzen dienten. Der ganze Stolz des Lokals war eine durchgezogene transparente Wand, die eine uneingeschränkte Aussicht auf den Strand ermöglichte und gleichzeitig den Lärm abhielt. Daher war dies der einzige Ort im Freizeitbereich, wo man ein ruhiges Gespräch führen konnte. Doch für Murchison und Conway war die Stille vollkommen überflüssig, weil sie sowieso kaum miteinander sprachen, jedenfalls bis sie die Mahlzeit halb beendet hatten.
„Sie essen auch nicht mehr soviel“, unterbrach Murchison schließlich das Schweigen.
„Haben Sie jemals ein Raumschiff besessen oder navigiert?“ fragte Conway unvermittelt.
„Ich…? Natürlich nicht!“
„Dann nehmen wir einmal an, Sie haben Schiffbruch erlitten, und der Astronavigator ist verletzt und bewußtlos“, hakte Conway unbeirrt nach. „Der Schiffsantrieb ist inzwischen wieder repariert. Könnten Sie dann die Koordinaten von irgendeinem Planeten innerhalb der Föderation angeben?“
„Nein“, antwortete Murchison ungeduldig. „Ich müßte schon so lange aushalten, bis der Astronavigator wieder aufgewacht ist. Was sind denn das für komische Fragen?“
„Das sind Fragen, die ich allen meinen Freunden stellen werde“, erwiderte Conway grimmig. „Wenn Sie eine davon mit Ja beantwortet hätten, wäre mir ein Stein vom Herzen gefallen.“
Murchison legte Messer und Gabel hin und runzelte leicht die Stirn. Conway fand, daß sie herrlich aussah, wenn sie die Stirn runzelte oder lachte oder überhaupt irgend etwas tat. Und ganz besonders, wenn sie einen Badeanzug trug. Das war eins der Dinge, die er am Freizeitbereich am meisten schätzte — man durfte in Badeanzügen und — hosen essen. Wenn er sich bloß von dieser düsteren Stimmung befreien und ein paar Stunden lang ein vor Leben sprühender Gesprächspartner sein könnte. Denn so, wie er sich gegenwärtig aufführte, bezweifelte er, ob sich Murchison auch heute von ihm nach Hause begleiten ließ. Und noch weniger würde sie sich die Umarmung in den zwei Minuten und achtundvierzig Sekunden gefallen lassen, die es dauerte, bis die Roboterstimme dazwischenfuhr.
„Irgend etwas bedrückt Sie doch“, stellte Murchison fest. Sie zögerte und fuhr dann fort: „Wenn Sie eine Schulter zum Anlehnen brauchen, dann nur zu. Aber merken Sie sich eins: meine Schulter ist nur zum Ausweinen da und zu nichts sonst!“
„Wozu könnte ich sie denn sonst noch gebrauchen?“ fragte Conway scheinheilig.
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