Dann war die Gliedmaße plötzlich nicht mehr da — sie war starr wie ein kranker Ast von einem Baum in einen Behälter auf dem Boden gefallen —, und Cha Thrat sah zum erstenmal einen Amputationsstumpf. Verzweifelt kämpfte sie gegen den Drang an, sich übergeben zu müssen oder in Ohnmacht zu fallen.
„Der große Hautlappen wird über den Stumpf geklappt und mit Klammern befestigt, die sich auflösen, sobald der Heilungsprozeß abgeschlossen ist“, erläuterte Conway. „Wegen des erhöhten Innendrucks dieser Lebensform und der extremen Festigkeit der Haut, die man kaum mit einer Nadel durchstechen kann, hat das normale Vernähen keinen Sinn, und deshalb ist es ratsam, lieber großzügigen Gebrauch von den Klammern zu machen.“
Auf Sommaradva hatte es immer wieder unappetitliche Gerüchte über ähnliche Fälle gegeben, bei denen es durch schwere Betriebs- oder Verkehrsunfälle zu gewaltsam herbeigeführten Amputationen gekommen war, die die Opfer überlebt hatten. Die Wunden wurden normalerweise von jungen Chirurgen für Krieger notdürftig versorgt, da sie aufgrund ihrer noch fehlenden Qualifikation keinerlei Verantwortung trugen, oder sogar — wenn gerade niemand anders zur Verfügung stand — von bereitwilligen Heilern für Sklaven. Doch selbst wenn sich die betreffenden Krieger die Verletzungen durch eine tapfere Tat zugezogen hatten, wurde die ganze Geschichte geheimgehalten und so schnell wie möglich vergessen.
Die Unfallopfer begaben sich stets freiwillig ins Exil. Sie würden nie auch nur davon träumen, ihre körperliche Behinderung oder Entstellung den Blicken der Öffentlichkeit preiszugeben, und außerdem war das auch gar nicht erlaubt. Dafür achtete man auf Sommaradva seinen Körper zu sehr. Und daß Leute mit mechanischen Vorrichtungen als Ersatz für die Gliedmaßen umherstolzierten, war verabscheuungswürdig und unvorstellbar.
„Danke schön, FROB-Dreiundsiebzig, gut gemacht“, sagte der Terrestrier und warf erneut einen kurzen Blick auf die weiße Karte. „FROB-Einundsechzig, würden Sie uns jetzt bitte zeigen, was Sie können?“
So widerlich und abstoßend das alles war, Cha Thrat konnte einfach nicht die Augen von dem Operationsgestell abwenden, während der neue FROB seine chirurgischen Fähigkeiten unter Beweis stellte. Die Tiefe und Plazierung jedes Schnitts und Instruments brannte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis ein, als würde sie bei irgendeiner scheußlichen, aber faszinierenden Perversion zusehen. Auf FROB-Einundsechzig folgten zwei weitere fortgeschrittene Auszubildende, und danach besaß der Patient FROB-Elf-Zweiunddreißig nur noch zwei seiner sechs Tentakel.
„Eine der vorderen Gliedmaßen ist immer noch einigermaßen beweglich“, ergriff Conway erneut das Wort, „und in Anbetracht des fortgeschrittenen Alters und der verringerten geistig-seelischen Anpassungsfähigkeit des Patienten denke ich, daß sie sowohl aus psychologischen als auch aus physiologischen Gründen unangetastet bleiben sollte. Zudem kann es gut sein, daß der Zustand der Muskulatur und die Durchblutung in diesem Glied zum Teil verbessert wird, da sich aufgrund des Fehlens der übrigen Extremitäten sowohl die Blutzufuhr als auch die Versorgung mit den vorhandenen Nährstoffen steigert. Wie Sie sehen, ist dagegen das zweite Vorderglied praktisch abgestorben und muß entfernt werden.
Die Amputation wird die Sommaradvanerin Cha Thrat durchführen“, fügte er hinzu.
Plötzlich waren alle Blicke auf sie gerichtet, und für einen Moment hatte Cha Thrat das alberne Gefühl, im Zentrum eines dreidimensionalen Bildes zu stehen, zu dem dieser Alptraum in alle Ewigkeit erstarrt war. Doch der wahre Alptraum stand ihr erst in wenigen Minuten bevor, wenn sie zu einem beruflichen Entschluß von großer Tragweite gezwungen sein würde.
Die Sprechmembran ihres Kollegen von der Station vibrierte schwach. „Glückwunsch. Das ist ein riesiges Kompliment, Schwester.“
Bevor sie darauf etwas entgegnen konnte, hatte sich der Diagnostiker schon wieder an alle gewandt.
„Cha Thrat stammt von einem neuentdeckten Planeten namens Sommaradva, auf dem sie als ausgebildete Chirurgin gearbeitet hat“, sagte er. „Sie hat bereits Erfahrungen in Alienchirurgie bei einem terrestrischen DBDG sammeln können, einer Lebensform, der sie nur wenige Stunden zuvor zum erstenmal begegnet war. Trotzdem hat sie, wie ich von Chefarzt Edanelt gehört habe, sachgerechte Arbeit geleistet und dem Terrestrier ohne Zweifel das Bein und wahrscheinlich auch das Leben gerettet. Und jetzt kann sie mit einem viel weniger schwierigen Eingriff bei einem FROB ihre Kenntnisse in Alienchirurgie erweitern.
Treten Sie bitte vor, Cha Thrat“, ermutigte sie der Chefarzt. „Sie brauchen keine Angst zu haben. Falls irgend etwas schiefgeht, bin ich ja hier, um Ihnen zu helfen.“
Innerlich packte Cha Thrat die kalte Angst, gemischt mit einer hilflosen Wut darüber, sich der endgültigen Herausforderung ohne angemessene geistigseelische Vorbereitung stellen zu müssen. Doch die abschließenden Worte des Diagnostikers, mit denen er ihr unterstellt hatte, daß sich ihre natürliche Scheu in irgendeiner Weise negativ auf ihr Handeln auswirken könnte, erfüllten sie regelrecht mit Zorn. Er war ein Herrscher des Hospitals, und egal, wie abwegig oder verantwortungslos seine Anweisungen ihr auch vorkommen mochten, würden sie befolgt werden müssen — das war ein unumstößliches Gesetz. Kein Sommaradvaner aus der Klasse der Krieger würde gegenüber jemand anderem seine Angst offenbaren, und das schloß auch eine Gruppe speziesfremder Wesen mit ein. Trotzdem zögerte sie noch.
„Sind Sie in der Lage, diese Operation vorzunehmen?“ erkundigte sich der Terrestrier etwas ungeduldig.
„Ja“, antwortete Cha Thrat gefaßt.
Hätte er sie gefragt, ob sie die Operation vornehmen wolle, dachte Cha Thrat betrübt, als sie auf das Operationsgestell zuging, wäre die Antwort bestimmt anders ausgefallen. Mit dem unglaublich scharfen FROB-Messer Nummer drei in der Hand unternahm sie einen letzten Versuch.
„Wo liegt in diesem Fall meine genaue Verantwortung?“ fragte sie schnell.
Der Terrestrier holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Dann antwortete er: „Sie sind für die operative Entfernung des linken Vorderglieds des Patienten verantwortlich.“
„Ist es möglich, dieses Glied zu retten?“ fragte Cha Thrat zögernd. „Kann man die Durchblutung verbessern, vielleicht durch eine operative Erweiterung der Blutgefäße oder durch die Entfer…“
„Nein!“ fiel ihr Conway ins Wort. „Und jetzt fangen Sie bitte an.“
Cha Thrat machte die ersten Schnitte und fuhr dann, ohne ein zweites Mal zu zögern oder die Hilfe des Diagnostikers zu erbitten, genauso fort, wie es die anderen getan hatten. Da sie nun wußte, was ihr bevorstand, unterdrückte sie ihre Angst und faßte den Entschluß, sich erst dann über den auf sie zukommenden Schmerz Gedanken zu machen, wenn es sowieso kein Entrinnen mehr für sie geben würde. Jetzt war sie felsenfest entschlossen, diesem seltsamen und äußerst sachkundigen, aber offenbar völlig verantwortungslosen Arzt zu zeigen, was für ein Verhalten man von einer sommaradvanischen Chirurgin für Krieger, die ihren Beruf von ganzem Herzen liebte, zu erwarten hatte.
Als sie die letzten Klammern in den Hautlappen drückte, der den Stumpf bedeckte, lobte sie der Diagnostiker in freundlichem Ton: „Das war eine schnelle, präzise und ganz vorbildliche Arbeit, Cha Thrat. Besonders beeindruckt bin ich von. Um Himmels willen! Was machen Sie denn da?“
Sie dachte, daß ihre Absicht klar wäre, als sie das Messer Nummer drei in die Hand nahm. Sommaradvanische DCNFs haben zwar keine solchen Vorderglieder wie die FROBs, aber das Abtrennen einer linken Hüftgliedmaße müßte den fachlichen Anforderungen dieser Situation gerecht werden. Ein rascher, sauberer Schnitt genügte, und sie blickte auf ihre abgetrennte Gliedmaße, die nun zwischen denen des Hudlarers im Behälter lag. Dann drückte sie den Amputationsstumpf fest zusammen, um die Blutung einzudämmen.
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