Normalerweise würde eine Schwesternschülerin wie Sie, die gerade erst auf der Station angefangen hat, nicht solch eine Erlaubnis erhalten“, schloß die Oberschwester, „aber falls Sie es innerhalb der einen Stunde, die Ihnen noch verbleibt, bis zur Kantine und wieder zurück schaffen können, dürfen Sie daran teilnehmen.“
„Das ist sehr nett von Ihnen“, bedankte sich Cha Thrat bei der Kelgianerin, die schon fast außer Hörweite war, und löste dann rasch die Gurte des Behälters.
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, Schwester, mir, bevor Sie gehen, auch ein bißchen von dem Präparat aufzusprühen?“ fragte der Hudlarer. „Ich sterbe nämlich vor Hunger!“
Cha Thrat war unter den ersten, die im FROB-Vorlesungssaal eintrafen. Sie stellte sich so dicht wie möglich an das Operationsgestell — Hudlarer benutzen keine Stühle, und andere Sitzgelegenheiten waren dort auch nicht vorhanden — und beobachtete, wie sich der Raum allmählich füllte. Unter den Anwesenden befanden sich zwar vereinzelte Häufchen melfanischer ELNTs, kelgianischer DBLFs und tralthanischer FGLIs, doch die meisten waren Hudlarer, die sich in den verschiedensten Ausbildungsstadien befanden. Cha Thrat war so eng von FROBs eingekesselt, daß sie das Gefühl hatte, den Saal nicht verlassen zu können, selbst wenn sie es hätte wollen, und sie vermutete, daß es sich bei dem neben ihr stehenden Hudlarer — sie konnte die FROBs immer noch nicht auseinanderhalten — um ihren Kollegen handelte, mit dem sie am Vormittag zusammengearbeitet hatte.
Aus den Gesprächen, die rings um sie geführt wurden, ging deutlich hervor, daß der Diagnostiker Conway von allen für eine wirklich höchst bedeutende Persönlichkeit gehalten wurde, wenn nicht gar für einen medizinischen Halbgott, dessen Gehirn durch einen mächtigen Zauberspruch des Chefpsychologen O'Mara und den Einsatz einiger technischer Hilfsmittel die Kenntnisse, Erinnerungen und Instinkte von Persönlichkeiten der unterschiedlichsten Spezies beherbergte. Nachdem Cha Thrat den besorgniserregenden Zustand der noch nicht operierten Patienten auf der FROB-Station gesehen hatte, sah sie mit wachsender Spannung Conways Demonstration entgegen.
Von der äußeren Erscheinung her wirkte Conway auf sie alles andere als beeindruckend: Das Wesen war ein terrestrischer DBDG, lag mit seiner Größe etwas über dem Durchschnitt und hatte einen Kopfpelz, der noch dunklere Grauschattierungen als der von Zauberer O'Mara aufwies.
Conway sprach mit der ruhigen Bestimmtheit eines großen Herrschers und begann die Vorlesung ohne große Einleitung.
„Allen, die noch nicht vollständig über das Hudlarerprojekt informiert sind und denen vielleicht der moralische Aspekt am Herzen liegt, möchte ich versichern, daß sowohl der Patient, den wir heute operieren werden, als auch seine Kollegen auf der FROB-Station und die ganzen anderen geriatrischen und prägeriatrischen Fälle, die in großer Not auf ihrem Heimatplaneten warten, allesamt dringend um eine Operation nachsuchen, bei der eine Vorauswahl getroffen werden muß.
Die Zahl der Fälle ist so groß — tatsächlich handelt es sich um einen beträchtlichen Teil der Gesamtbevölkerung —, daß wir unmöglich alle Hudlarer im Orbit Hospital behandeln können.“
Im Verlauf der Ausführungen des terrestrischen Diagnostikers wurde Cha Thrat durch das bloße Ausmaß des Problems immer mehr entmutigt. Ein Planet, auf dem sich ständig viele Millionen Lebewesen in derselben entsetzlichen Verfassung wie jene Patienten befanden, mit denen sie es bereits zu tun gehabt hatte, war eine Vorstellung, der sie nicht ins Auge blicken wollte. Allerdings wurde schon bald deutlich, daß sich Conway diesem Problem seit langem gewidmet hatte und auf eine endgültige Lösung hinarbeitete — und zwar bildete er, unterstützt von Freiwilligen anderer Spezies, die medizinisch ungeschulten Hudlarer in großer Zahl aus, damit sich diese später selbst helfen konnten.
Anfänglich sollte das Orbit Hospital für den grundlegenden Unterricht in FROB-Physiologie und prä- und postoperativer Krankenpflege sowie für die Ausbildung in nur einer einzigen und sehr einfachen Operationstechnik sorgen. Die erfolgreichen Absolventen sollten nach Hause zurückkehren, um ihre eigenen Ausbildungsinstitute aufzubauen, es sei denn, sie legten eine solch ungewöhnlich hohe Begabung an den Tag, daß es ratsamer wäre, ihnen eine Stelle als Mitarbeiter am Hospital anzubieten. Innerhalb von drei Generationen würde es auf diese Weise genügend auf die eigene Lebensform spezialisierte Chirurgen geben, daß diese furchtbare, aber bislang unausweichliche Geißel der Hudlarer der Vergangenheit angehören dürfte.
Allein die bloße Größenordnung und die anscheinend völlige, ja fast kriminelle Unverantwortlichkeit dieses Projekts bestürzte Cha Thrat und schmeckte ihr überhaupt nicht. Conway bildete keine Chirurgen aus, sondern produzierte gewaltige Mengen gewissenloser, organischer Maschinen! Schon als der Hudlarer die zur Qualifikation benötigte Zeit ihr gegenüber erwähnt hatte, war sie insgeheim aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, selbst wenn es den Ausbildern an diesem Hospital durchaus zuzutrauen war, in solch einem kurzen Zeitraum die erforderlichen praktischen Kenntnisse zu vermitteln. Aber was war mit der langfristigen Schulung, den geistigen und körperlichen Übungskursen, durch die die Teilnehmer erst darauf vorbereitet werden, Verantwortung zu übernehmen und das Leid zu ertragen, und was war mit der langen, dem Operieren vorausgehenden Lehrzeit? Als der Diagnostiker fortfuhr, erwähnte er all diese Dinge mit keinem Wort.
„Das ist ja unglaublich!“ platzte es plötzlich aus Cha Thrat heraus.
„Ja, allerdings“, flüsterte der Hudlarer neben ihr. „Aber seien Sie jetzt lieber still, und hören Sie gefälligst zu, Schwester!“
„Der Grad und das Ausmaß des Leids der älteren FROBs ist unvorstellbar und unmöglich zu beschreiben“, sagte der Terrestrier gerade. „Wenn die Mehrheit der übrigen Spezies der Föderation vor dasselbe Problem gestellt wäre, würde es für die Betroffenen nur eine einfache, wenn auch völlig unbefriedigende Lösung geben. Aufgrund ihrer Weltanschauung sind die Hudlarer aber glücklicher- oder unglücklicherweise nicht dazu imstande, sich selbst das Leben zu nehmen.
Würden Sie jetzt bitte den Patienten FROB-Elf-Zweiunddreißig hereinbringen?“
Ein fahrbares Operationsgestell, das von einer kelgianischen Schwester hereingeschoben wurde, kam vor dem Diagnostiker zum Stehen. Darin hing der bereits für die Operation vorbereitete Patient, einer der Hudlarer, die Cha Thrat am Vormittag besprüht hatte.
„Das Leiden von Elf-Zweiunddreißig ist schon zu weit fortgeschritten, als daß ein chirurgischer Eingriff den Degenerationsprozeß vollständig rückgängig machen könnte“, erläuterte der Terrestrier. „Die heutige Operation wird jedoch dafür sorgen, daß der Patient den Rest seines Lebens praktisch ohne Schmerzen verbringen kann, was wiederum bedeutet, daß er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sein wird und ein sinnvolles, wenn nicht sogar sehr aktives Leben führen kann. Bei Hudlarern, die sich vor Beginn des Leidens für eine solche Operation entscheiden — und in den betreffenden Altersgruppen gibt es nur sehr wenige, die sich nicht dazu entschließen —, sind die Ergebnisse noch sehr viel besser.
Bevor wir beginnen“, fuhr er fort, wobei er den Tiefenscanner aus der Tasche zog, „möchte ich die physiologischen Ursachen erörtern, die hinter dem erschütternden Krankheitsbild stecken, das wir hier vor uns sehen.“
Welche unverantwortliche und verbotene Wunderoperation könnte Elf-Zweiunddreißig wohl wieder gesund machen? fragte sich Cha Thrat angewidert.
Doch wurde ihre Neugier von wachsender Furcht verdrängt; sie wußte nicht, ob sie die Antworten, die dieser furchtbare Terrestrier geben würde, ertragen könnte, ohne dabei den Verstand zu verlieren.
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