Gespannt wartete sie auf eine Antwort, aber die beiden Terrestrier blickten sich schweigend an und beachteten sie nicht.
Ohne diese Schulungs- oder Physiologiebänder, so hatte Cha Thrat gelernt, hätte ein Krankenhaus mit vielfältigen Umweltbedingungen wie das Orbit Hospital nicht funktionieren können. Kein einzelnes Lebewesen, egal, welcher Spezies es angehörte, konnte die gewaltige Menge physiologischen Wissens im Kopf behalten, die für die erfolgreiche Behandlung der vielen verschiedenen Patienten, die ins Hospital eingeliefert wurden, erforderlich war. Deshalb wurden die vollständigen physiologischen Daten jeder beliebigen Spezies durch ein Schulungsband vermittelt, auf dem einfach die Gehirnströme einer medizinischen Kapazität aufgezeichnet worden waren, die derselben oder einer ähnlichen Spezies angehörte wie der zu behandelnde Patient.
Ein Wesen, das ein derartiges Band im Kopf speicherte, mußte seinen Geist mit einer vollkommen fremdartigen Persönlichkeit teilen, und genau diesen subjektiven Eindruck hatte der Betreffende dann auch. Mit einem Schulungsband wurden einem nämlich nicht nur ausgewählte medizinische Informationen ins Gehirn übertragen, sondern auch sämtliche Erinnerungen, Erlebnisse und persönlichen Eigenschaften des Wesens, von dem das Band stammte. Ein Schulungsband konnte nicht geschnitten werden, und nicht einmal die Chefärzte und Diagnostiker, die darin Erfahrung besaßen, waren imstande, das Ausmaß an Verwirrung, seelischer Desorientierung und persönlicher Zerrüttung zu beschreiben, das es bei einem auslösen konnte.
Die Diagnostiker waren die höchsten medizinischen Herrscher des Orbit Hospitals und Wesen, deren Psyche und Verstand sowohl für anpassungsfähig als auch stabil genug erachtet wurden, permanent bis zu zehn Physiologiebänder gleichzeitig im Kopf gespeichert zu haben. Ihren mit Daten vollgestopften Hirnen oblag in erster Linie die Aufgabe, Grundlagenforschung in Alienmedizin zu leisten und neue Krankheiten bislang unbekannter Lebensformen zu behandeln.
Aber Cha Thrat hatte nicht vor, sich wie die Diagnostiker freiwillig einer Vielfalt fremder Vorstellungen und Einflüsse auszusetzen. Wie sie mitbekommen hatte, gab es unter den Mitarbeitern des Hospitals die Redensart, daß jeder geistig Zurechnungsfähige, der freiwillig Diagnostiker werden wollte, schon von vornherein verrückt sein müsse, und das glaubte sie gern. Mit ihrem Plan verfolgte sie nämlich eine viel weniger rigorose Lösung des Problems.
„Wenn ich mein Gehirn mit einer terrestrischen, kelgianischen oder sogar nidianischen Persönlichkeit teilen würde, könnte ich verstehen, warum man die Dinge, die ich manchmal tue, für falsch hält, und so eine Wiederholung vermeiden“, beteuerte Cha Thrat. „Die Informationen über eine fremde Spezies würde ich nur als Orientierungshilfe für mein Verhalten anderen gegenüber benutzen. Als Auszubildende — und erst recht nicht als Schwesternschülerin — würde ich auf keinen Fall versuchen, die medizinischen oder chirurgischen Kenntnisse ohne Erlaubnis auf meine Patienten anzuwenden.“
Den Diagnostiker überkam plötzlich ein Hustenanfall. Als er sich wieder erholt hatte, sagte er: „Ich danke Ihnen, Cha Thrat, und ich bin mir sicher, Ihre Patienten wären Ihnen ebenfalls sehr verbunden. Aber es ist unmöglich. O'Mara, das ist Ihr Fachgebiet. Antworten Sie.“
Der Chefpsychologe rückte nah an die Bettkante heran und sah Cha Thrat mitleidig an. „Die Vorschriften des Hospitals gestatten es mir nicht, Ihrem Wunsch nachzukommen, aber selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Obwohl Sie eine ungewöhnlich starke und unbeugsame Persönlichkeit besitzen, würden Sie große Schwierigkeiten haben, Ihren Gehirnpartner unter Kontrolle zu halten. Natürlich ist er kein Alien, der um die geistige Vorherrschaft in Ihrem Gehirn kämpft, aber da die Bänder stets von einem führenden medizinischen Spezialisten stammen, dessen Charakter sich häufig durch Willensstärke und Überzeugungskraft auszeichnet und der es zudem gewohnt ist, seinen Willen durchzusetzen, würde es Ihnen so vorkommen, als ob er die Macht über sie gewinnt. Der sich daraus ergebende, lediglich eingebildete Konflikt könnte zu zeitweiligen Schmerzen, Hautausschlag und noch unangenehmeren organischen Störungen führen. Das alles hat natürlich psychosomatische Gründe, aber die werden Ihnen genauso viele Schmerzen bereiten wie körperliche Ursachen. Zudem besteht die große Gefahr eines bleibenden Gehirnschadens. Bevor ein Auszubildender nicht gelernt hat, die äußeren Wesenszüge der Aliens in seiner Umgebung zu verstehen, bekommt er auch keins der Schulungsbänder eingespielt.
In Ihrem Fall spricht noch ein weiterer Grund dagegen“, merkte O'Mara noch an. „Sie sind eine Frau.“
Sogar im Orbit Hospital gab es also sommaradvanische Vorurteile, dachte Cha Thrat wütend und stieß einen Laut aus, der bei ihr zu Hause zu einem sofortigen und wahrscheinlich gewaltsamen Abbruch des Gesprächs geführt hätte. Zum Glück wurde der Laut nicht vom Translator übersetzt.
„Die Schlußfolgerung, die Sie eben offenbar gezogen haben, ist falsch“, fuhr O'Mara fort. „Es ist einfach so, daß sämtliche weiblichen Angehörigen der bislang entdeckten Spezies mit zwei Geschlechtern gewisse Eigenheiten — aber beileibe nicht Abnormitäten — in den Denkstrukturen entwickelt haben. Eine davon ist eine tiefverwurzelte, auf dem Geschlecht beruhende Feindseligkeit und Abneigung gegen alles und jeden, der in ihre Gedanken eindringt oder sich ihrer zu bemächtigen versucht. Die einzige Ausnahme von dieser Regel findet man nach der Verbindung mit einem Lebensgefährten, in der sich die beiden Partner bei vielen Spezies durch den körperlichen und geistigen Austausch und das Gefühl des gegenseitigen Besitzes ergänzen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich in die Sinneseindrücke eines Aliens verlieben.“
„Erhalten denn männliche Lebewesen Aufzeichnungen der Gehirnströme von weiblichen Aliens?“ fragte Cha Thrat, von O'Maras Erklärung zugleich zufriedengestellt und fasziniert. „Könnte ich nicht ein Band von einer Frau bekommen?“
„Dafür gibt es bei den Aufzeichnungen nur ein einziges Beispiel.“, setzte O'Mara an.
„Wir sollten uns jetzt wirklich nicht damit befassen!“ unterbrach ihn Conway, dessen Gesicht einen dunkleren Rotton annahm. „Tut mir leid, Cha Thrat, aber Sie werden weder jetzt noch irgendwann später ein Schulungsband bekommen. O'Mara hat Ihnen erklärt, weshalb. Genauso hat er Ihnen bereits die politischen Hintergründe Ihrer Anstellung am Hospital und den heiklen Stand des Kulturkontakts mit Sommaradva erläutert, der gefährdet wäre, wenn wir Sie kurzerhand aus dem Hospital rauswerfen würden. Wäre es nicht für alle Beteiligten besser, wenn Sie uns aus freiem Entschluß heraus verlassen?“
Cha Thrat schwieg für einen Moment, wobei sie die Augen auf die Gliedmaße richtete, die sie schon als für alle Zeiten verloren geglaubt hatte, und versuchte die richtigen Worte zu finden. „Für die Behandlung des Herrschers über das Schiff Chiang schulden Sie mir nichts“, sagte sie schließlich. „Schon bei meinem ersten Gespräch mit dem Chefpsychologen habe ich erklärt, daß die Verzögerung bei der Behandlung der Wunden eingetreten ist, weil ich selbst keine Gliedmaße verlieren wollte. Hätte Chiang nämlich infolge meiner Entscheidung, die Operation durchzuführen, eine Gliedmaße eingebüßt, hätte ich auch eine opfern müssen. Als Chirurgin für Krieger kann ich mich nicht einer Verantwortung entziehen, die ich bereitwillig übernommen habe.
Aber wenn ich jetzt das Hospital verlassen müßte, wie Sie es mir nahelegen“, fuhr sie fort, „dann wäre das nicht mein eigener, freier Entschluß. Ich kann nicht etwas tun oder unterlassen, wenn ich weiß, daß es falsch wäre.“
Der Diagnostiker blickte ebenfalls auf die wiederangenähte Gliedmaße. „Ich vertraue Ihnen da ganz“, bemerkte er knapp.
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