Oder gefunden?
Der Gedanke traf ihn wie ein Geschoss und fand in seinem Bewusstsein ein Loch, das wie für ihn geschaffen war. Als gehörte er dorthin. Sonnendiebs Schwarm hat etwas gefunden. Weit draußen am Rand des Systems hat er eine Entdeckung gemacht.
Während er noch mit dieser Erkenntnis kämpfte, lösten sich die entzifferten Schriftzeichen aus dem Schacht und ließen Hohlräume zurück. Andere folgten; ganze Wörter, Phrasen, Sätze schälten sich ab und umkreisten Sajaki und Sylveste lauernd wie riesige Gebäude. Sie schwebten frei, gehalten von einem unbekannten Mechanismus, der weder mit gravitationellen noch mit magnetischen Schwankungen arbeitete und daher für die Sensoren des Anzugs nicht wahrnehmbar waren. Sylveste war von der absoluten Fremdheit dieser Objekte zunächst wie betäubt, doch dann begriff er, dass hier eine Logik am Werk war, gegen die es keinen Widerspruch gab. Was wäre wirkungsvoller als eine Warnung, die sich, wenn sie missachtet wurde, selbst in die Tat umsetzte?
Plötzlich blieb für derart abstrakte Überlegungen keine Zeit mehr.
»Anzugverteidigung auf Automatik.« Die Stimme des sonst so unerschütterlichen Sajaki kletterte eine volle Oktave höher. »Mir scheint, diese Gebilde wollen uns zermalmen.«
Als hätte Sylveste das nicht schon selbst gemerkt!
Die schwebenden Worte hatten sich um sie herum zu einer Kugel geordnet und rückten bedrohlich näher. Sylveste überließ seinem Anzug die Initiative. Sichtschilde wurden aktiviert, um die Retina vor der zerstörerischen Helligkeit der Plasma-Explosionen zu schützen. Alle manuellen Steuerungen wurden vorübergehend außer Kraft gesetzt. Das hatte gute Gründe: das Letzte, was der Anzug jetzt brauchte, war ein Mensch, der glaubte, die anstehenden Aufgaben besser erledigen zu können. Trotz der schweren Abschirmung tanzte ein Feuerwerk vor Sylvestes Augen. Photonenereignisse reizten seine Schaltkreise. Gleich außerhalb der Anzughülle tobten multispektrale Strahlungen von tödlicher Intensität. Er spürte heftige Bewegungen; Schubstöße vermutlich, die so stark waren, dass er immer wieder das Bewusstsein verlor. Er kam sich vor wie ein Zug, der durch eine ganze Serie von Gebirgstunneln fuhr. Vermutlich wollte sein Anzug weglaufen und wurde immer wieder radikal abgebremst. Irgendwann fiel er in eine tiefe, lange Ohnmacht.
Volyova fuhr den Schub der Melancholie bis auf fast vier Ge Dauerbeschleunigung hoch und baute zusätzlich willkürliche Schwenks ein, für den Fall, dass das Lichtschiff mit kinetischen Waffen schießen sollte. Mehr Druck konnten sie ohne Schutzanzüge mit Brust- und Rückenschilden nicht ertragen und auch dieser Wert war unangenehm, besonders für Pascale, die an solche Belastungen noch weniger gewöhnt war als Khouri. Sie konnten ihre Sitze nicht verlassen, und alle Armbewegungen mussten auf ein Minimum reduziert werden. Immerhin konnten sie ein mehr oder weniger zusammenhängendes Gespräch miteinander führen.
»Du hattest Kontakt mit ihm?«, fragte Khouri. »Mit Sonnendieb, meine ich. Ich habe es dir angesehen, als du kamst, um uns vor den Ratten in der Krankenstation zu retten. Es stimmt doch, nicht wahr?«
Volyovas Stimme klang leicht gepresst, als würde sie gerade langsam stranguliert.
»Wenn ich an deiner Geschichte noch Zweifel hatte, so verschwanden sie in dem Moment, als ich in sein Gesicht sah. Ich hatte ein Alien vor mir, soviel war sicher. Und ich begriff allmählich, was Boris Nagorny durchgemacht haben musste.«
»Du meinst, was ihn in den Wahnsinn trieb.«
»Glaube mir, wenn dieses Wesen sich in meinem Kopf eingenistet hätte, wäre es mir nicht anders ergangen. Außerdem befürchte ich, dass etwas von Boris in Sonnendieb eingedrungen sein könnte.«
»Was glaubst du denn, wie mir zumute ist?«, fragte Khouri. »Ich habe das Ding in meinem Kopf.«
»Das ist nicht wahr.«
Volyova schüttelte den Kopf, was bei vier Ge schon an Verwegenheit grenzte. »Er hatte dein Bewusstsein für eine Weile besetzt, Khouri — so lange, bis er die Reste der Mademoiselle unterdrückt hatte. Aber dann hat er dich verlassen.«
»Wann soll das gewesen sein?«
»Als Sajaki dich trawlen wollte. Vermutlich war es mein Fehler. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass er das Gerät überhaupt einschaltete.« Für ein Schuldbekenntnis klang das bemerkenswert wenig zerknirscht. Vielleicht genügte Volyova schon das Eingeständnis allein. »Als der Scanner auf deine Neuralmuster zugriff, bettete sich Sonnendieb darin ein und gelangte mit den verschlüsselten Daten in den Trawl. Von dort war es nur noch ein kleiner Sprung in alle anderen Schiffssysteme.«
Die drei dachten schweigend nach, bis Khouri endlich sagte: »Sajaki gewähren zu lassen war nicht gerade deine klügste Entscheidung, Ilia.«
»Nein«, gab Volyova zu, als sei ihr der Gedanke eben erst gekommen. »Das muss man wohl so sehen.«
Als er — zehn Sekunden oder zehn Minuten später — wieder zu sich kam, waren die Sichtschilde abgeschaltet, und er fiel ungebremst durch den Schacht. Er schaute nach oben. Kilometerweit über ihm leuchtete die Reststrahlung des kurzen Gefechts. Die Schachtwände waren von den Energiestrahlen zerschrammt. Einige der Worte schwebten immer noch im Kreis herum, aber Teile davon waren abgesplittert, so dass sie nicht mehr viel Sinn ergaben. Und sie hatten aufgehört, sich als Waffen zu gebärden, als hätten sie eingesehen, dass ihre Warnung nicht mehr verständlich war. Während er noch hinaufsah, kehrten sie auf ihre Plätze zurück wie Krähen, die sich verdrossen in ihre Nester zurückzogen.
Irgendetwas stimmte nicht.
Wo war Sajaki?
»Was, zum Teufel, ist passiert?«, fragte Sylveste. Er konnte nur hoffen, dass sein Anzug die Frage auch richtig interpretierte. »Wohin ist er verschwunden?«
»Es gab einen Zusammenstoß mit einem autonomen Verteidigungssystem«, teilte ihm der Anzug so gleichgültig mit, als sprächen sie über das Wetter.
»Danke, das habe ich mitbekommen, aber wo ist Sajaki?«
»Sein Anzug wurde bei einem der Ausweichmanöver schwer getroffen. Verschlüsselte Telemetriesignale lassen umfangreiche und möglicherweise irreparable Schäden an primären und sekundären Antriebsaggregaten vermuten.«
»Ich habe gefragt, wo er ist?«
»Sein Anzug konnte weder die Fallgeschwindigkeit bremsen, noch dem Coriolis-Effekt entgegenwirken, der ihn gegen die Wände trieb. Die Telemetriesignale zeigen an, dass er sich fünfzehn Kilometer unter Ihnen befindet und immer noch weiter stürzt. Die Blauverschiebung relativ zu Ihrer Position beträgt eins Komma eins Kilometer pro Sekunde, Tendenz steigend.«
»Er fällt noch immer?«
»Da seine Antriebsaggregate ausgefallen sind und bei seiner derzeitigen Geschwindigkeit keine Monofil-Bremsleine ausgefahren werden kann, wird er wahrscheinlich so lange weiter stürzen, bis er am Schachtende ankommt.«
»Heißt das, er muss sterben?«
»Bei der errechneten Endgeschwindigkeit ist ein Überleben für alle Modelle statistisch gesehen extrem unwahrscheinlich und daher auszuschließen.«
»Eine Chance von eins zu einer Million«, präzisierte Calvin.
Sylveste legte sich nach vorne, um senkrecht nach unten schauen zu können. Fünfzehn Kilometer — mehr als das Siebenfache der Breite der echolosen Röhre. Er starrte unverwandt in die Tiefe, während er selbst immer weiter fiel… ein paar Mal glaubte er, weit entfernt etwas aufblitzen zu sehen. Vielleicht ein Funke, der entstand, wenn Sajaki im Sturz die Wände streifte. Falls der Lichtblitz nicht ohnehin Illusion war, wurde er mit jedem Mal schwächer, und bald war außer den glatten Schachtwänden nichts mehr zu sehen.
Im Orbit um Cerberus/Hades
2567
»Du hast etwas erfahren«, sagte Pascale. »Sonnendieb hat dir etwas verraten. Und seitdem versuchst du verzweifelt, ihn aufzuhalten.«
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