»Wir alle haben hier ein ähnliches Problem, Sergeant, glauben Sie mir«, murmelte Miles zurück. »Tun Sie Ihr Bestes.«
Der Taktikraum der Triumph war von lebhafter Aktivität erfüllt, jeder Stuhl war besetzt, jedes Holovid-Display leuchtete mit den Darstellungen von Schiffen und taktischen Veränderungen. Miles stand neben Tung und fühlte sich doppelt überflüssig. Er erinnerte sich an den Kalauer von der Akademie:
Regel 1) Überstimme den Taktikcomputer nur, wenn du etwas weißt, was er nicht weiß.
Regel 2) Der Taktikcomputer weiß immer mehr als du.
War das der Kampf? Dieser gedämpfte Raum, ein Wirbel von Lichtern, diese gepolsterten Stühle? Vielleicht war die Distanz eine gute Sache für Kommandanten. Sein Herz pochte sogar jetzt. Ein Taktikraum dieses Kalibers konnte Informationsüberlastung und Gedankensperre verursachen, wenn man es zuließ. Der Trick bestand darin, herauszunehmen, was wichtig war, und niemals zu vergessen, daß die Landkarte nicht die Wirklichkeit war.
Seine Aufgabe hier, erinnerte sich Miles, war nicht zu befehlen. Sie bestand darin, Tung beim Kommandieren zu beobachten und zu lernen, wie er es tat, seine Denkmethoden, die vom barrayaranischen Akademiestandard abwichen. Der einzige Moment, wo Miles Tung legitim überstimmen durfte, könnte kommen, wenn irgendeine äußere politisch/strategische Notwendigkeit Vorrang hätte vor innerer taktischer Logik. Miles betete darum, daß dieses Ereignis nicht einträte, denn ein kürzerer und häßlicherer Name dafür war ›die eigenen Truppen verraten‹.
Miles’ Aufmerksamkeit nahm zu, als ein kleiner Sprungaufklärer an der Mündung des Wurmloches aufblinkte. Auf dem Taktikdisplay war er ein rosafarbener Lichtpunkt in einem langsam sich bewegenden Strudel von Dunkelheit. Auf einem Teleschirm war es ein schlankes Schiff vor unbewegten fernen Sternen. Vom Standpunkt des eigenen Piloten, der mit ihm verkabelt war, stellte das Schiff eine seltsame Erweiterung seines eigenen Körpers dar. Auf einem weiteren Viddisplay war es eine Sammlung telemetrischer Anzeigen, Numerologie, ein platonisches Ideal.
Was davon ist die Wahrheit? Alles. Nichts. »Haiköder Eins meldet an Flotte Eins«, erklang die Stimme des Piloten über Tungs Konsole. »Sie haben zehn Minuten Durchflugerlaubnis. Halten Sie sich bereit für den Dichtstrahlimpuls!«
Tung sprach in seinen Kommunikator: »Flotte beginnt Sprung, dicht hintereinander in numerischer Reihenfolge.« Das erste Dendarii-Schiff, das an dem Wurmloch wartete, ging in Ausgangsstellung, leuchtete auf dem Taktikdisplay hell auf (obwohl es auf dem Televid nichts zu tun schien) und verschwand. Ein zweites Schiff folgte nach dreißig Sekunden und reduzierte damit die Sicherheitsgrenze für die Zeitspanne zwischen zwei Sprüngen extrem. Wenn zwei Schiffe versuchten, am selben Ort zur selben Zeit zu rematerialisieren, dann wäre das Ergebnis: keine Schiffe, aber eine riesige Explosion.
Als die von Haiköder per Dichtstrahl übermittelten Telemetriedaten von dem Taktikcomputer verarbeitet waren, rotierte das Displaybild so, daß der dunkle Strudel, der das Wurmloch repräsentierte (aber keineswegs abbildete), plötzlich von einem Ausgangs-Strudel gespiegelt wurde. Jenseits dieses Ausgangs repräsentierte eine Anordnung von Punkten, Flecken und Linien Schiffe, die flogen, manövrierten, feuerten und flohen, die gepanzerte Kampfstation der Vervani auf der Heimatseite, Zwilling der Station auf der Nabenseite, wo Miles Gregor zurückgelassen hatte, die cetagandanischen Angreifer. Endlich ein Blick auf ihr Ziel. Alles war natürlich nicht mehr aktuell, um Minuten veraltet.
»Pfui Teufel«, kommentierte Tung. »Was für ein Durcheinander. Jetzt geht’s los …«
Die Sprungsirene ertönte. Jetzt war die Triumph an der Reihe. Miles griff nach der Lehne von Tungs Stuhl, obwohl er rational wußte, daß die Empfindung von Bewegung illusorisch war. Ein Wirbel von Träumen schien seinen Geist zu umwölken, einen Augenblick lang, eine Stunde lang, es war unmeßbar. Der Ruck in seinem Bauch und die darauf folgende scheußliche Welle von Übelkeit waren alles andere als traumhaft. Der Sprung hinüber. Einen Augenblick herrschte Schweigen im ganzen Raum, als die anderen sich bemühten, ihre Desorientierung zu überwinden. Dann ging das Gemurmel dort weiter, wo es aufgehört hatte. Willkommen in Vervain. Nehmen Sie einen Wurmlochsprung zur Hölle.
Das Taktikdisplay drehte und veränderte sich, nahm neue Daten auf, zentrierte sein kleines Universum aufs neue. Ihr Wurmloch wurde gegenwärtig von seiner umlauerten Station und einer dünnen und angeschlagenen Kette von vervanischen Schiffen und von Vervani kommandierten Rangerschiffen bewacht. Die Cetagandaner hatten ihnen schon einmal einen Schlag versetzt, waren abgeschlagen worden und schwebten jetzt außerhalb der Reichweite, wo sie auf Verstärkungen für den nächsten Schlag warteten. Cetagandanischer Nachschub strömte vom anderen Wurmloch aus durch das System von Vervain.
Das andere Wurmloch war schnell gefallen. Aus der Perspektive des Angreifers war es der einzige Zugang. Obwohl den Cetagandanern mit ihrem massiven Erstschlag eine vollkommene Überraschung gelungen war, hätten die Vervani sie vielleicht stoppen können, wenn drei Ranger-Schiffe nicht anscheinend ihre Befehle mißverstanden und den Kampf nicht abgebrochen hätten, als sie einen Gegenangriff starten sollten. Aber die Cetagandaner hatten ihren Brückenkopf gesichert und begannen durchzuströmen.
Das zweite Wurmloch, Miles’ Wurmloch, war besser für die Verteidigung ausgerüstet gewesen — bis die in Panik geratenen Vervani alles abgezogen hatten, was entbehrt werden konnte, um den Bereich des hohen Orbits um ihre Heimatwelt zu schützen. Miles konnte ihnen kaum einen Vorwurf machen, beide Optionen stellten eine schwere strategische Entscheidung dar. Aber jetzt brausten die Cetagandaner praktisch ungehindert durch das System. Sie übersprangen den massiv geschützten Planeten in einem kühnen Versuch, das Hegen-Wurmloch zu erobern, wenn nicht durch Überraschung, dann wenigstens durch Geschwindigkeit.
Die erste Methode zum Angriff auf ein Wurmloch, die zur Auswahl stand, war List, Bestechung und Infiltration, d. h. Betrug. Die zweite, zu deren Ausführung auch List bevorzugt wurde, bestand in einem Umweg, indem man Streitkräfte über eine andere Route (wenn es sie gab) in den umstrittenen Lokalraum schickte. Die dritte war, einen Angriff mit einem Opferschiff zu eröffnen, das eine ›Sonnenwand‹ legte, eine massive Decke von kleinen Nuklearprojektilen, die als Einheit plaziert wurden und eine Welle der Zerstörung aufbauten, die den Raum um das Wurmloch von fast allem freiräumte, häufig auch von dem Angriffsschiff, aber Sonnenwände waren teuer, schnell zerstreut und nur lokal wirksam.
Die Cetagandaner hatten versucht, alle drei Methoden zu kombinieren, wie die Unordnung der Rangers und der schmutzige radioaktive Nebel, der aus der Umgebung ihrer ersten Eroberung ausströmte, bezeugten.
Die vierte anerkannte Lösung des Problems eines Frontalangriffs auf ein bewachtes Wurmloch war, den Offizier zu erschießen, der den Angriff vorschlug. Miles hoffte, die Cetagandaner würden sich auch zu dieser Methode durchringen, sobald er mit seiner Arbeit fertig wäre. Die Zeit verging. Miles befestigte einen Stationsstuhl in der Halterung und studierte das zentrale Display, bis ihm die Augen tränten und sein Geist in einen hypnotischen Dämmerschlaf zu fallen drohte, dann stand er auf, schüttelte sich, ging zwischen den Dienststationen umher und schaute dabei den anderen über die Schulter.
Die Cetagandaner manövrierten. Das plötzliche und unerwartete Eintreffen der Dendarii-Streitmacht während ihrer Ruhepause hatte sie zeitweilig in Verwirrung gestürzt, ihr geplanter Schlußangriff auf die gestressten Vervani mußte notwendigerweise im Flug in noch eine weitere, sanfter werdende Runde von punktuellen Angriffen umgewandelt werden. Das war teuer. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Cetagandaner wenige Möglichkeiten, ihre Anzahl oder ihre Bewegungen zu verbergen. Das Eingreifen der Dendarii legte den Cetagandanern die Folgerung nahe, daß die Söldner über verborgene Reserven verfügten (wer wußte, wie unbegrenzt? Miles sicher nicht), die auf der anderen Seite des Wurmlochsprungs versteckt waren. In Miles flackerte kurz die Hoffnung auf, daß diese Drohung allein schon genügen könnte, um die Cetagander zum Abbruch ihres Angriffs zu veranlassen.
Читать дальше