Eine zusätzliche Freude der Leute vom Roembden war die für den Titan seltsame Klarheit der Atmosphäre in diesem Krater. Dadurch konnte man wochenlang am gestirnten Firmament die gelbe, von flachen Ringen umgebene Scheibe des Saturns bewundern. Fünfmal weiter entfernt als der Mond von der Erde, erschien der aufgehende Planet in einer Große, die Neulinge immer wieder verblüffte. Ohne Fernglas gab er die vielfarbigen Streifen seiner Oberfläche preis, dazu die schwarzen Schattentropfen, die seine näheren Monde während ihrer Finsternisse warfen. Dieses Schauspiel wurde möglich durch einen borealen Luftstrom, der so heftig durch die Felsengurgel fegte, daß er einen Föhneffekt erzeugte. Nirgendwo anders auf dem Titan war es so warm wie im Roembden.
Die Bedienungsmannschaft hatte die Solektoren entweder noch nicht wieder im Griff, oder wegen des Alarmzustands konnte sich keiner damit befassen, jedenfalls zog der Lichtstreif bereits über den Boden des Kessels. Es wurde taghell, der Jeep wäre ohne die Scheinwerfer ausgekommen. Der Pilot sah die grauen Betonplatten rings um seine HELIOS. Jenseits dieser Fläche, dort, wo sie hinfuhren, erhoben sich wie versteinerte Stämme monströser Bäume vulkanische Korken, die einst aus seismischen Schußlöchern gebrochen und seit Jahrmillionen erstarrt waren. In der perspektivischen Verkürzung sahen sie aus wie die zertrümmerte Säulenhalle eines Tempels und ihre huschenden Schatten wie die Zeiger von Sonnenuhren, die eine fremde, hastende Zeit anzeigten. Der Jeep fuhr an dieser unregelmäßigen Palisade vorüber. Er schaukelte, die Elektromotoren jammerten leise, das flache Gebäude lag noch im Halbdunkel, aber man sah dahinter bereits zwei schwarze Silhouetten aufragen wie gotische Kirchtürme.
Ihre tatsächliche Größe konnte der Pilot erst abschätzen, als er ausgestiegen war und mit Gosse näher heranging.
Solche Kolosse hatte er noch nie gesehen. Er hatte noch keinen Diglator gesteuert, aber das hatte er nicht zugegeben. Kleidete man eine solche Maschine in haariges Fell, so verwandelte sie sich in King Kong. Die Proportionen waren weniger menschlich als anthropoidal. Die Beine aus Brückengittern kamen senkrecht herab und gingen in die Füße über, die — gewaltig wie Panzer — reglos im Geröll steckten. Die turmgleichen Schenkel führten m einen schüsselförmigen Kreis, und in diesem saß wie ein breitgebauter Schiffsrumpf der eiserne Korpus.
Die Hände an den oberen Extremitäten sah er erst, nachdem er den Kopf weit in den Nacken gelegt hatte. Sie hingen am Leib herunter wie herabgelassene Kranausleger mit stahlhart geballten Fäusten. Beide Kolosse waren ohne Kopf, und was man von weitem für Türmchen halten konnte, erwies sich jetzt vor dem Hintergrund des Himmels als Antennenanlage, die jeweils aus dem Rücken ragte.
Hinter dem ersten Diglator stand — seinen Panzer mit dem gekrümmten Ellenbogengelenk fast berührend, als habe er ihn stoßen wollen und sei mitten in der Bewegung erstarrt — ein zweiter, ihm ähnlich wie ein Zwilling. Da er sich etwas weiter weg befand, war in seiner Brust das blitzende Glas eines Fensters zu sehen. Das war die Steuerkabine. „Das ist Kastor, und das ist Pollux“, vollzog Gosse die Vorstellung. Er ließ das Licht eines Handscheinwerfers über die Riesen streifen. Der Strahl holte aus dem Dunkel die Panzer des Beinschutzes, die Schutzschilde an den Knien und am Rumpf, schwarzglänzend wie der massige Leib eines Wals.
„Haartz, dieser Trottel, hat sie nicht mal in den Hangar steuern können“, sagte Gosse. Er tastete auf der Brust nach dem Griff für die Klimatisierung. Der Atem hatte das Glas seines Helmes beschlagen. „Vor diesem Hang hat er gerade noch bremsen können…“
Der Pilot konnte sich denken, warum dieser Haartz die beiden Kolosse in die Felskluft geklemmt und lieber dort stehengelassen hatte. Es lag an der Trägheit der Masse, Nicht anders als ein Hochseeschiff gehorcht die selbstschreitende Maschine dem Steuermann um so schwerfälliger, je massiver sie ist. Er hatte schon die Frage auf der Zunge, wieviel so ein Diglator wiege, wollte sich jedoch nicht durch Unkenntnis blamieren. Er nahm Gosse die Lampe ab und schritt am Fuße des Giganten entlang. Das Licht über den Stahl führend, fand er wie erwartet in Augenhöhe das angenietete Datenschild. Maximale Dauerleistung 14 ooo kW, zulässige Überlastung 19 ooo kW, Ruhemasse 1680 Tonnen, Multi-Target-Tokamak-Reaktor mit Foucault-Austauscher. Hydraulik des Hauptgetriebes und der Differentiale von Rolls Royce, das Chassis Made in Sweden.
Er richtete das Lichtbündel in die Höhe, an dem gegitterten Bein hinauf, konnte jedoch nicht den ganzen Rumpf auf einmal erfassen. Nur die Konturen der schwarzen Schultern, über denen kein Kopf war, zeichneten sich ab. Er wandte sich nach Gosse um, aber der war verschwunden. Sicher war er gegangen, um die Heizung des Landeplatzes einzuschalten. Kleine Rohre auf dem Boden begannen den niedrig-stehenden, dünnen Nebel zu zerstreuen. Die verirrte Sonnensäule des Solektors tanzte wie betrunken durch den Kraterkessel, riß aus dem Dunkel bald die Klötze der Lagerhäuser, bald den Pilz des Kontrollturms mit dem grünen Band seiner Beleuchtung, bald brachte er, wenn er auf die vereisten Berge fiel, ein sogleich wieder erlöschendes Glitzern hervor — es war, als wolle er die tote Landschaft wecken, durch Bewegung zum Leben erwecken. Auf einmal schoß er zur Seite, jagte über die Betonbahnen, übersprang den Pilz des Towers, die Palisade der Magmastämme, das ebenerdige Magazingebäude und traf den Piloten. Dieser schirmte sich sogleich mit dem Handschuh und legte den behelmten Kopf in den Nacken, um bei dieser Gelegenheit den Diglator in voller Größe zu sehen. Von schwarzem Korrosionsschutz überzogen, glänzte er über ihm wie ein aufgebäumter Panzerkreuzer.
Es war, als posiere er für ein Blitzlichtfoto. Die gehärteten Brustplatten, die runde Lagerung der Hüften, die Pfeiler und Antriebswellen der Schenkel, die Schutzschilde der Kniegelenke, die Gitterstreben des Schienbeins — alles glänzte untadelig zum Zeichen, daß er bisher noch nie zum Einsatz gekommen war. Angus empfand Freude und Lampenfieber. Er schluckte durch die gepreßte Kehle den Speichel hinunter und ging in dem sich bereits entfernenden Licht weiter, um auf die Rückseite des Riesen zu kommen. Als er sich der Ferse näherte, wurde die Ähnlichkeit mit dem menschlichen Fuß zunächst zur Karikatur, verschwand jedoch gänzlich bei der ins Geröll gegrabenen Sohle. Der Pilot stand hier wie unter dem Fundament eines Portalkrans, den nichts aus seinen Grundfesten reißen kann. Der gepanzerte Absatz konnte einer hydraulischen Presse als Ständerplatte dienen.
Das Sprunggelenk hielten Bolzen wie Schiffsschrauben zusammen, und das Knie, das sich zwei Stockwerke hoch in der Mitte des Beines wölbte, war die reine Mühle.
Die Hände des Riesen, größer als Baggerschaufeln, hingen reglos herab, erstarrt in Habachtstellung.
Gosse war verschwunden, aber der Pilot wollte keine Zeit verlieren. Er bemerkte Fußtritte und Handgriffe, die aus dem Außenblech der Ferse ragten, und stieg daran nach oben. Das Sprunggelenk war von einem kleinen Podest umgeben, von dem aus im Innern der vergitterten Wade eine senkrechte Leiter aufwärts führte. Es war weniger schwierig als seltsam, ihre Sprossen hinaufzuklettern. Sie führte an eine Klappe, die nicht sehr günstig über dem rechten Oberschenkel angebracht war, denn ihre ursprüngliche, den Konstrukteuren viel praktischer erscheinende Anordnung war Ursache nicht enden wollender, übrigens nur auf mäßigem Niveau stehender Witzeleien gewesen. Die Projektanten der ersten Pedipulatoren machten sich zwar daraus gar nichts, mußten aber später darauf Rücksicht nehmen, als die Zahl der Bewerber für einen Posten nachließ, dessen Inhaber ewig von Sticheleien geplagt wird, wo er seinem Atlas hineinkriecht.
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