Problem: Die richtige Navigation auf einem mehrere Kilometer breiten Fluß, bei Nacht und ohne Karte mit dem Ziel, das unsichtbare Westufer zu erreichen — ohne dabei nach Süden getrieben zu werden.
Unmöglich? So wie der Mississippi sich windet wie eine Schlange mit gebrochenem Rückgrat? Das Wort „unmöglich“ gibt es im Zusammenhang mit dem Mississippi allerdings nicht. Es gibt da eine Stelle, wo man drei kurze Überland-Abkürzungen machen kann, die insgesamt weniger als neunzig Meter lang sind, wo man ferner den Fluß in zwei Biegungen hinabschwimmen kann, die insgesamt etwa dreißig Kilometer ausmachen — nur um gut hundert Kilometer flußaufwärts zu landen.
Ich hatte keine Karte und sah mein Ziel nicht — ich wußte nur, daß ich nach Westen mußte und dabei nicht nach Süden durfte. Und genau das tat ich. Ich blieb auf dem Rücken liegen und schaute immer wieder zu den Sternen empor, um den Westkurs zu halten. Dabei konnte ich nicht ermitteln, um wieviel ich dabei durch die Strömung nach Süden getrieben wurde, bis auf die Gewißheit, daß, sollte der Fluß nach Süden abbiegen, mein Westkurs mich am Arkansas-Ufer anlanden lassen mußte.
Und so passierte es auch. Eine Stunde später — zwei Stunden später? — viel Wasser später! — , als Wega längst im Osten aufgestiegen war, vom Meridian allerdings noch weit entfernt, erkannte ich, daß links von mir das Ufer aufragte. Ich orientierte mich, berichtigte meinen Kurs genau auf Westen und schwamm weiter. Gleich darauf stieß ich mit demKopf gegen ein Hindernis im Wasser, griff über den Kopf, packte zu und zerrte mich hoch. Dann arbeitete ich mich von einem Hindernis zum nächsten ans Ufer vor.
Die Uferböschung zu erklettern war kein Problem da der Höhenunterschied an dieser Stelle nur etwa einen halben Meter betrug. Die einzige Gefahr war die Weichheit des Bodens, aber ich fand Halt, blieb stehen und sah mich um.
Tintenschwarz war es ringsum; die Sterne lieferten das einzige Licht. Die glatte Schwärze des Wassers war von der Pechschwärze des Bewuchses hinter mir nur durch die schwache Spiegelung des Sternenlichts zu unterscheiden. Die Richtung? Der Polarstern stand inzwischen hinter Wolken, der Große Bär aber verriet mir, wo er stehen mußte, und hierfür fand ich die Bestätigung durch Antares im Südosten.
Diese Orientierung nach dem Sternenhimmel verriet mir, daß der Westkurs direkt durch die dicken schwarzen Büsche führte.
Die einzige Alternative hätte darin bestanden, ins Wasser zurückzukehren und mich an den Fluß zu halten — was zur Folge gehabt hätte, daß ich irgendwann morgen wieder in Vicksburg gelandet wäre.
Nein, danke. Ich marschierte ins Gebüsch.
Die nächsten Stunden will ich schnell überspringen. Es mag nicht die längste Nacht meines Lebens gewesen sein, auf jeden Fall aber war es die langweiligste. Bestimmt gibt es auf der Erde dichteren und gefährlicheren Wildwuchs als das Gewirr im Flußtal des unteren Mississippi. Aber ich möchte nicht hindurchwandern müssen, besonders nicht ohne Machete (oder auch nur einem Pfadfindermesser!).Die meiste Zeit kosteten mich die Umwege — wie komme ich um den Brocken herum? — Nein, doch nicht auf der Südseite! Wie komme ich nach Norden?
Der Weg, den ich zurücklegte, war so gewunden wie das Flußbett, und mein Vorankommen belief sich auf etwa einen Kilometer in der Stunde — vielleicht übertreibe ich aber auch; vielleicht war es weniger. Einen großen Teil der Zeit brauchte ich zum Reorientieren und das war alle paar Dutzend Meter fällig.
Fliegen, Moskitos, Mücken, Krabbeltiere, die ich gar nicht erst zu Gesicht bekam, zweimal durch Schlangen unter meinen Füßen, vielleicht WasserMokassins, die anzuschauen ich mir aber nicht die Zeit nahm, und immer wieder aufgescheuchte Vögel die mit einem Dutzend verschiedener Stimmen schrien und die mir zur gegenseitigen Bestürzung oft beinahe ins Gesicht flatterten … Wenn ich den Fuß niedersetzte, dann normalerweise auf weichem Lehm und meistens gegen ein Hindernis, das knöchelhoch war oder sogar bis zum Knie reichte.
Dreimal (viermal?) gelangte ich an offenes Gewässer. Jedesmal behielt ich meinen Westkurs bei und begann zu schwimmen, sobald das Wasser tief genug war. Meistens stehende Nebengewässer, doch einmal glaubte ich auch eine Strömung wahrzunehmen — vielleicht war ich in einen unbedeutenden Nebenlauf des Mississippi geraten. Auf einer solchen Schwimmstrecke glitt etwas Großes an mir vorbei. Ein riesiger Katzenwels? Heißt es von denen nicht, daß sie auf dem Grund bleiben? Ein Alligator? Die soll es hier doch gar nicht geben! Vielleicht war es das Ungeheuer von Loch Ness auf Tournee; ich bekam das Geschöpf nicht zu sehen, sondern spürte es nur — undschoß vor Schreck förmlich aus dem Wasser.
Etwa achthundert Jahre nach der Versenkung der Skip und der Myrtle setzte die Dämmerung ein.
Ungefähr einen Kilometer westlich von mir erhob sich das Hochland der Arkansas-Seite. Ich triumphierte.
Außerdem war ich hungrig, erschöpft, verdreckt von Insekten zerfressen, unansehnlich und beinahe unerträglich durstig.
Fünf Stunden später war ich Reisegefährte eines gewissen Mr. Asa Hunter in seinem StudebakerBauernwagen, der von einem hübschen Muligespann gezogen wurde. Wir näherten uns einer kleinen Stadt die Eudora hieß. Noch immer hatte ich nicht geschlafen, doch einige andere Bedürfnisse waren befriedigt — ich hatte essen und trinken und mich waschen können. Mrs. Hunter bemutterte mich, lieh mir einen Kamm und setzte mir ein gutes Frühstück vor: gebratene Eier, dicker, fetter Speck, Maisbrot, Butter Hirse, Milch, frisch aufgekochter Kaffee, der mit einer Eierschale beruhigt wurde — und will man Mrs.
Hunters Kochkünste wirklich voll ausschöpfen, so empfehle ich eine ganze Nacht, wie ich sie hinter mir hatte: zahlreiche Schwimmstrecken, dazwischen anstrengende Wege durch das sumpfige, unwegsame Flußbett des Old Man River. Ambrosia!
Während des Essens trug ich ein Kleid der Frau die darauf bestand, meinen mitgenommenen Einteiler auszuwaschen. Als ich zum Aufbruch bereit war konnte ich das gute Stück wieder anziehen und machte mich darin sogar einigermaßen.
Ich bot den Hunters keine Bezahlung an. Es gibtMenschen, die sehr wenig besitzen, aber über einen besonderen Reichtum an Würde und Selbstachtung verfügen. Ihre Gastfreundschaft steht nicht zum Verkauf, ebensowenig ihre Güte. Allmählich erkenne ich diesen Charakterzug, soweit er in einem Menschen vorhanden ist. Bei den Hunters war er nicht zu übersehen.
Wir überquerten die Macon-Bayou, und später mündete der Weg auf eine etwas breitere Straße. Mr.
Hunter ließ seine Mulis anhalten, stieg ab und kam auf meine Seite herüber. „Miß, ich würde Sie bitten jetzt herunterzukommen.“
Ich ergriff seine Hand und ließ mir beim Absteigen helfen. „Stimmt etwas nicht, Mr. Hunter? Habe ich Sie gekränkt?“
Langsam antwortete er: „Nein, Miß. Ganz und gar nicht.“ Er zögerte. „Sie haben uns erzählt, ihr Fischerboot sei an einem Hindernis leck geworden.“
„Ja?“
„Ja, solche Hindernisse sind eine elende Gefahr.“
Er stockte. „Gestern abend gegen Sonnenuntergang ist am Fluß was gewesen. Zwei Explosionen, ungefähr an der Kentucky-Biegung. Große Explosionen.
Von unserem Haus zu sehen und zu hören.“
Wieder geriet er ins Stocken. Ich sagte nichts. Meine Erklärung für mein Hiersein und meinen (unmöglichen) Zustand stand ohnehin auf wackeligen Beinen. Aber was hätte ich noch sagen können, außer daß ich aus einer fliegenden Untertasse gestiegen wäre?
„Die Frau und ich haben noch nie Ärger gehabt mit der Imperial-Polizei“, fuhr Mr. Hunter fort. „Und dabei soll es auch bleiben. Wenn Sie also nichts dagegenhätten, dieser Straße ein Stück nach links zu folgen kommen Sie nach Eudora. Und ich wende und fahre wieder nach Hause. Okay?“
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