Hier waren sie also, hier schliefen sie überall — Hunderttausende von Kolonisten, die sich an die Erde buchstäblich immer noch so erinnerten, als sei es erst gestern gewesen. Was träumten sie, fragte sie sich, die ihren fünfhundertjährigen Schlaf noch nicht einmal zur Hälfte hinter sich hatten? Träumte das Gehirn überhaupt in diesem dämmrigen Niemandsland zwischen Leben und Tod? Wenn man Loren Glauben schenkte, nicht; aber wer konnte wirklich sicher sein?
Mirissa hatte Videos gesehen über Bienen, die in einem Stock herumflitzten und emsig ihren geheimnisvollen Geschäften nachgingen; hier kam sie sich vor wie eine menschliche Biene, als sie Loren, Hand über Hand das Gitterwerk von Geländern entlang folgte, das sich kreuz und quer über die Fassade der großen Bienenwabe zog. Sie fühlte sich jetzt bei Nullschwerkraft völlig zu Hause und nahm nicht einmal mehr die bittere Kälte wahr. Ja, sie war sich kaum ihres Körpers bewußt und mußte sich manchmal selbst überzeugen, daß das nicht alles ein Traum war, aus dem sie gleich erwachen würde.
Die Zellen trugen keine Namen, waren aber alle mit einem alphanumerischen Kode markiert. Loren ging ohne zu zögern auf H-354 zu. Auf einen Knopfdruck glitt der sechseckige Behälter aus Metall und Glas auf Teleskopschienen heraus und gab den Blick auf die schlafende Frau in seinem Innern frei.
Sie war nicht schön — aber es war auch unfair, eine Frau zu beurteilen, der die krönende Zierde ihres Haares fehlte. Ihre Haut hatte eine Farbe, wie Mirissa sie noch nie gesehen hatte und wie sie, das wußte sie, auf der Erde sehr selten geworden war — ein so tiefes Schwarz, daß fast ein Stich Blau darin zu sein schien. Und sie war so makellos, daß Mirissa einen Anfall von Eifersucht nicht unterdrücken konnte; ein flüchtiges Bild schoß ihr durch den Sinn, ineinander verschlungene Körper, Ebenholz und Elfenbein — ein Bild, das sie, dessen war sie sicher, in den kommenden Jahren verfolgen würde.
Sie schaute wieder in das Gesicht. Selbst in dieser jahrhundertelangen Ruhe zeigte es Entschlossenheit und Intelligenz. Wären wir Freunde geworden? fragte sich Mirissa. Ich bezweifle es; wir sind uns zu ähnlich.
Du bist also Kitani, und du trägst Lorens erstes Kind hinaus zu den Sternen. Aber wird es wirklich das erste sein, da es ja Jahrhunderte nach dem meinen geboren werden wird? Erstes oder zweites, ich wünsche ihm Glück…
Sie war immer noch ganz starr, aber nicht nur von der Kälte, als sich die Kristalltür hinter ihnen schloß. Loren steuerte sie sanft zurück, den Korridor entlang, am Hüter vorbei.
Noch einmal strich sie mit den Fingern über die Wange des unsterblichen Goldknaben. Einen erschreckenden Augenblick lang fühlte sie sich warm an; dann begriff sie, daß ihr Körper noch dabei war, sich an die Normaltemperatur anzupassen.
Das würde nur Minuten dauern; aber wie lange würde es dauern, fragte sie sich, bis das Eis um ihr Herz geschmolzen war?
Nun werde ich zum letztenmal mit dir sprechen, Evelyn, ehe ich meinen längsten Schlaf beginne. Ich bin noch auf Thalassa, aber in ein paar Minuten wird die Fähre abheben und mich zur ‚Magellan‘ bringen; für mich gibt es nichts mehr zu tun — bis wir in dreihundert Jahren den Planeten erreichen…
Ich verspüre eine große Traurigkeit, denn soeben habe ich Mirissa Leonidas, meiner besten Freundin hier, Lebewohl gesagt. Wie hätte es dir gefallen, sie kennenzulernen! Sie ist vielleicht der intelligenteste Mensch, der mir auf Thalassa begegnet ist, und wir hatten viele lange Gespräche — wenn ich auch befürchte, daß manche davon mehr den Monologen ähnelten, für die du mich so oft kritisiert hast…
Sie hat natürlich nach Gott gefragt; aber ihre scharfsinnigste Frage war vielleicht eine, die ich überhaupt nicht beantworten konnte. Bald nachdem ihr geliebter jüngerer Bruder ums Leben kam, fragte sie mich: „Welchen Zweck hat der Kummer? Hat er irgendeine biologische Funktion?“
Wie sonderbar, daß ich mir darüber niemals ernsthaft Gedanken gemacht hatte! Man könnte sich eine perfekt funktionierende, intelligente Spezies vorstellen, in der der Toten ohne Gefühle gedacht würde — wenn ihrer überhaupt gedacht würde. Es wäre eine völlig unmenschliche Gesellschaft, aber sie könnte mindestens genauso erfolgreich sein, wie es die Termiten und die Ameisen auf der Erde waren.
Könnte der Kummer ein zufälliges — sogar pathologisches — Nebenprodukt der Liebe sein, die natürlich durchaus eine wesentliche, biologische Funktion hat? Das ist ein seltsamer, verwirrender Gedanke. Aber es sind doch unsere Gefühle, die uns zu Menschen machen; wer würde sie aufgeben wollen, selbst wenn er wüßte, daß jede neue Liebe nur eine weitere Geisel für jene terroristischen Zwillinge Zeit und Schicksal ist?
Sie hat oft mit mir über dich gesprochen, Evelyn. Sie konnte nicht verstehen, daß ein Mann sein ganzes Leben lang nur eine Frau lieben sollte und sich keine andere suchte, wenn sie nicht mehr war. Einmal habe ich sie geneckt und gesagt, den Lassanern sei Treue fast ebenso fremd wie Eifersucht; sie erwiderte, sie hätten gewonnen, indem sie beides verloren hätten. Man ruft mich; die Fähre wartet. Jetzt muß ich Thalassa für immer Lebewohl sagen. Und auch dein Bild beginnt zu verblassen. Obwohl ich gut darin bin, anderen Ratschläge zu erteilen, habe ich mich vielleicht zu lange an meinen eigenen Kummer geklammert, und das erweist der Erinnerung an dich keinen Dienst.
Thalassa hat geholfen, mich zu heilen. Jetzt kann ich mich mehr darüber freuen, dich gekannt zu haben, als daß ich trauere, dich verloren zu haben.
Eine seltsame Ruhe ist über mich gekommen. Zum erstenmal habe ich das Gefühl, die Vorstellung meiner alten buddhistischen Freunde von der Loslösung wirklich zu verstehen — sogar das Nirwana…
Und wenn ich auf Sagan Zwei nicht mehr aufwache, dann mag es so sein. Meine Arbeit hier ist getan, und ich bin es zufrieden.
Der Trimaran erreichte den Rand der Tanggründe kurz vor Mitternacht, und Brant warf in dreißig Meter Wassertiefe Anker. Wenn es dämmerte, würde er anfangen, die Beobachtungskugeln auszuwerfen, bis der Zaun zwischen Skorpville und der Südinsel geschlossen war. Sobald er stand, würde man alles beobachten, was da unten vorging. Wenn die Skorps eine der Beobachtungskugeln fanden und sie als Trophäe nach Hause trugen, um so besser. Sie würde weiterfunktionieren und zweifellos sogar noch nützlichere Informationen liefern als im offenen Meer.
Jetzt hatte er nichts mehr zu tun, als in dem sanft schaukelnden Boot zu liegen und der leisen Musik von Radio Tarna zuzuhören, die heute abend ungewöhnlich gedämpft war. Von Zeit zu Zeit kam eine Durchsage, eine Bekundung der Freundschaft oder ein Gedicht zu Ehren der Besucher. Auf beiden Inseln würden heute nacht wohl nur wenige Menschen schlafen; Mirissa fragte sich flüchtig, welche Gedanken wohl Owen Fletcher und seinen Mitverbannten durch den Kopf gingen, die für den Rest ihres Lebens auf einer fremden Welt ausgesetzt waren. Als sie sie das letztemal in einer Videosendung von der Nordinsel gesehen hatte, hatten sie überhaupt nicht unglücklich gewirkt und ganz fröhlich über örtliche Geschäftsmöglichkeiten gesprochen.
Brant war so still, daß sie gedacht hätte, er schliefe, wenn seine Hand die ihre nicht so fest wie immer umfaßt hätte, als sie so Seite an Seite lagen und zu den Sternen hinaufschauten. Er hatte sich verändert — vielleicht noch mehr als sie. Er war weniger ungeduldig,
rücksichtsvoller. Und was das Beste war, er hatte das Kind schon akzeptiert, mit Worten, deren Freundlichkeit sie zu Tränen gerührt hatte: „Er wird zwei Väter haben.“
Jetzt begann Radio Tarna mit dem letzten und ganz unnötigen Start-Countdown — dem ersten, den die Lassaner jemals erlebt hatten, abgesehen von historischen Aufzeichnungen aus der Vergangenheit. Werden wir überhaupt etwas sehen, fragte sich Mirissa? Die ‚Magellan‘ ist auf der anderen Seite der Welt, schwebt hoch im Zenit über einer Wasserhalbkugel. Wir haben die Masse des ganzen Planeten zwischen uns…
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