Schließlich konnten die Leute der „Tellur“ trotz ihrer Erschöpfung freudige Ausrufe der Begeisterung nicht unterdrücken: Auf ihrem Bildschirm erschienen, von der anderen Seite des Durchgangs aus projiziert, erst um einen, dann um einen zweiten, dritten, vierten, fünften Stern herum kreisund ellipsenförmige Bahnen, auf denen sich Planeten um ihren Himmelskörper bewegten.
Das Bild eines plumpen, dickbauchigen Raumschiffes wurde verdrängt durch die Darstellung eines ganzen Schwarmes von eleganten, schnittigen Schiffen. Auf ovalen Plattformen, die aus dem Schiffskörper ausgefahren waren, standen Wesen in Schutzanzügen, zweifellos Menschen. Das Sinnbild für ein Atom mit acht Elektronen — Sauerstoff — war gleichsam die Krönung der Bilderreihe über die Planeten und Schiffe, aber die auf dem Schema dargestellten Raumschiffe verbanden sich nur mit zweien von den skizzierten Planeten. Der eine von diesen befand sich in der Nähe der großen rötlichgelben Sonne, der zweite kreiste um einen hellen Stern von der Spektralklasse F. Anscheinend hatte das Leben auf den Planeten dreier weiterer Sauerstoffsterne noch nicht die hohe Entwicklungsstufe erreicht, welche die Voraussetzung für den Austritt der Bewohner eines Planeten in den Kosmos bildet, oder aber es war den denkenden Wesen bisher nicht gelungen, dort in Erscheinung zu treten.
Eine Erklärung hierüber von den Fremden zu bekommen gelang nicht. Aber in den Händen der Erdmenschen befanden sich ja die unschätzbar wertvollen Nachrichten über die Wege, die zu diesen bewohnten Welten führten, die viele hundert Parsec vom Ort der Begegnung der beiden Raumschiffe entfernt waren.
Die Stunde des Abschieds war gekommen.
Die Besatzungen beider Raumschiffe nahmen an der durchsichtigen Wand Aufstellung: die weißhäutigen Menschen der Erde und die grauhäutigen Menschen des Fluorplaneten. Sie tauschten herzliche, mit Zeichen der Abschiedstrauer untermischte Gesten aus und lächelten sich gegenseitig an.
Eine bis dahin nie gekannte heftige Trauer überkam die Leute der „Tellur“. Nicht einmal der Abflug von der Erde, der Abschied von alledem, wohin sie erst nach sieben Jahrhunderten zurückkehren würden, war ihnen so nahegegangen und ihnen als ein so schmerzhafter, unersetzlicher Verlust erschienen. Aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, sie mußten sich damit abfinden, daß es nur noch wenige Minuten dauern würde, und diese schönen, eigenartigen und guten Menschen würden für immer im unendlichen Kosmos untertauchen auf der einsamen und nahezu aussichtslosen Suche nach einer neuen, ihrer Konstitution entsprechenden Heimat.
Vielleicht verstanden die Raumfahrer erst in diesem Augenblick mit letzter Klarheit, daß das Wichtigste bei allem Suchen und Forschen, allem Streben, allen Träumen und Kämpfen der Mensch ist. Für jede beliebige Zivilisation, jeden Stern, unsere ganze Galaxis und sogar das gesamte unendliche Weltall ist der Mensch der ausschlaggebende Faktor, der Mensch mit seinem Verstand, seinen Gefühlen, seiner Kraft, seiner Schönheit, seinem Leben!
Im Glück, in der Erhaltung und der Weiterentwicklung des Menschen liegt die Hauptaufgabe einer unbegrenzten Zukunft nach dem endgültigen Sieg über das Herz der Schlange, nach einer Zeit sinnloser, törichter und boshafter Verschwendung wertvoller Lebensenergie in schlecht und gewissenlos organisierten Gesellschaftsformen.
Der Kommandant der Fremden gab ein Zeichen. Sogleich stürzte das junge Weib, das damals die Schönheit der Bewohner des Fluorplaneten demonstriert hatte, zu der Stelle hin, an der Afra stand. Weit die Arme ausbreitend, schmiegte es sich ganz dicht an die Zwischenwand. Afra, der die Tränen über die Wangen liefen, ohne daß sie es gewahr wurde, preßte sich an die kristallklare Trennwand wie ein gefangenes Vögelchen, das gegen die Scheiben seines Käfigs anfliegt. Aber das Licht bei den Fremden erlosch nun, und schwarz gähnte hinter der finster gewordenen Scheibe ein endloser Abgrund.
Mut Ang ließ die Erdbeleuchtung einschalten, aber die andere Hälfte des Durchganges war bereits leer.
„Außengruppe Schutzanzüge anlegen zur Trennung der Durchgänge!“ unterbrach Mut Ang gebieterisch das wehmütige Schweigen. „Die Mechaniker an die Motoren, der Astrosteuermann in die Kommandozentrale! Alles zum Abflug fertigmachen!“ Die Raumfahrer entfernten sich aus dem Durchgang. Alle Geräte wurden weggebracht. Nur Afra verharrte, im trüben Schein des aus der Bordluke herausdringenden Lichts stehend, in völliger Bewegungslosigkeit, wie in der eisigen Kälte des interstellaren Raumes erstarrt.
„Afra, wir schließen die Luke!“ rief ihr Tei Eron aus dem Innern des Schiffes zu. „Sie können doch nach ihrem Abflug zur Genüge nachdenken.“
Plötzlich kam Leben in die junge Frau. Mit dem Schrei: „Halt! Tei, halt!“ rannte sie weg zum Kommandanten. Aufs höchste überrascht, hielt der Erste Offizier inne und wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Aber Afra kehrte sehr rasch zurück, und neben ihr lief Mut Ang.
„Tei, schnell einen Scheinwerfer in den Durchgang! Rufen Sie die Techniker zurück, sie sollen die Leinwand nochmals aufstellen!“ ordnete der Kommandant im Laufen an.
Die Menschen rannten wie bei einer Havarie. Der starke Strahl des Scheinwerfers drang tief in die fremde Seite des Durchgangs ein und begann mit denselben Intervallen aufzuleuchten und zu verlöschen wie vor kurzem der Radarstrahl der „Tellur“ in den ersten Augenblicken der gegenseitigen Annäherung. Die Fremden unterbrachen ihre Arbeiten und erschienen wieder im Durchgang. Die Erdbewohner schalteten das blaue Licht mit Filter 430 ein. Afra, vor Aufregung zitternd, beugte sich über ein Reißbrett. Die von der Biologin hastig hingeworfenen Skizzen wurden auf den Bildschirm übertragen. Die zweifachen, spiralenförmig angeordneten Reihen der Vererbungsmechanismen mußten, im großen und ganzen bei den Erdund den Fluormenschen die gleichen sein. Nachdem Afra sie gezeichnet hatte, entwarf sie ein Diagramm des Stoffwechsels im menschlichen Organismus, der hier wie dort auf die Verwendung der Strahlungsenergie der zugehörigen Himmelskörper auf dem Umweg über die Pflanzenwelt zurückzuführen war. Soweit in ihren Darlegungen gelangt, warf die junge Frau einen kurzen Blick auf die unbeweglich und voller Spannung ihr zuschauenden grauen Gestalten. Dann durchkreuzte sie mit fester Hand das Fluoratom mit seinen 9 Elektronen und setzte an seine Stelle den Sauerstoff.
Die Fremden erbebten. Ihr Kommandant trat einen Schritt vor und näherte sein Gesicht ganz dicht der durchsichtigen Scheidewand. Dann prüfte er lange und eingehend, mit weitgeöffneten Augen, Afras flüchtige Zeichnungen. Plötzlich aber trat er ein wenig zurück, hob die fest ineinandergelegten Hände hoch über seine Stirn und verneigte sich tief und ehrerbietig vor der Vertreterin der Erde.
Die Fremden hatten das begriffen, was sich, auf einen Wink des Schicksals hin, erst in der letzten Sekunde des Abschieds in Afras Hirn zu voller Klarheit durchgerungen hatte. Und nur unter dem Eindruck des Abschiedsschmerzes hatte Afra den Mut gefunden, das Ergebnis ihres Nachdenkens zu offenbaren. Afras Gedankengänge bauten sich auf der Überlegung auf, daß man Veränderungen und chemische Umgestaltungen unter kühnem Austausch der Elemente dort ansetzen müsse, wo der äußerst komplizierte Aufbau des menschlichen Organismus seinen Ausgangspunkt hatte. Auf dem Wege der Einwirkung auf die Vererbungsmechanismen mußte es nach ihrer Meinung möglich sein, den Fluorstoffwechsel in einen Stoffwechsel auf Sauerstoffgrundlage umzuwandeln! Zwar mußten alle Besonderheiten, vor allem die Vererbungsmöglichkeiten der Fluormenschen, erhalten bleiben, aber ihr Körper mußte auf eine andere Energiegrundlage umgestellt werden. Freilich war dieser gigantische Plan von seiner Verwirklichung noch so weit entfernt, daß selbst die siebenhundert Jahre, die die „Tellur“ unterwegs war, ihn nur um ein geringes der Realisierung näherbringen konnten. Aber, was wichtiger war: Hier wurde ein Beispiel gegeben, wie man sich gegenseitig helfen und wie unendlich viel man bei der Vereinigung der Anstrengungen zweier Planeten erreichen konnte! Wenn sich doch auch andere Brüder und Freunde aus dem unendlichen Kosmos einem solchen weltweiten befruchtenden Gedankenund Wissensaustausch anschließen möchten! Die Fluormenschheit würde nicht spurlos in ewiger Nacht versinken, sie würde nicht verloren sein im unendlichen All.
Читать дальше