Yulin, der unbewaffnet war, lehnte es ab, voranzugehen. Wooly trat schließlich vor. Die Tür glitt zur Seite.
Die anderen folgten ihr vorsichtig. Vistaru nutzte die Atmosphäre und die Leere des Korridors, um zu fliegen; ihre Rasse war für das Gehen eigentlich nicht gebaut, und sie konnte, weil sie so klein war, sonst kaum Schritt halten. Die niedrige Schwerkraft, für die anderen eine Erleichterung, erwies sich zunächst als Problem, aber sie fand sich damit zurecht.
Das Terminal sah von außen aus wie eine römische Ruine. Das Gras war hoch, überall wuchsen Blumen. Die Wege waren fast ganz überwuchert, und die Bäume standen zahlreicher und weniger gepflegt als früher. Efeu, Farn und Moos wuchsen an manchen Gebäuden und verliehen ihnen etwas Spukhaftes. Antor Trelig hatte von einem neuen Römischen Reich mit sich selbst als Gott-Kaiser geträumt. Neu-Pompeii spiegelte das wider; die Architektur war graecoromanisch, mit vielen Säulen, Bogen und Kuppeln. Verlassen, halb verfallen, wirkte das Ganze noch eindrucksvoller als früher.
»Unfaßbar«, stieß Wooly hervor.
Yulin nickte.
»Auf seine Art eine große Leistung. Unter der Kuppel ist diese Welt völlig autark. Die Pflanzen haben der Luft vermutlich zuviel Kohlendioxyd zugeführt, aber früher war das Ökosystem in perfektem Gleichgewicht. Die Luft ist rein und wird ständig gefiltert. Die automatischen Monitoren sorgen dafür, daß die Mischung Sauerstoff-Stickstoff-Spurengase optimal erhalten bleibt. Wasserdampf wird aus unterirdischen Tanks zugeführt und wiederverarbeitet. Trelig hatte sogar Regenfälle — ganz nach Wunsch.«
»Der Wald dort drüben ist ziemlich dicht«, sagte Vistaru und wies hinüber nach links.
»Ein schöner Wald, ja. Und irgendwo darin gibt es Lichtungen, auf denen exotische Früchte wachsen. Rehe und Niederwild werden vermutlich überlebt haben, und Insekten ebenfalls. Man hört sie, wenn man darauf achtet.«
Sie konnten es wirklich hören. Es war unheimlich.
»Bozog, haben Sie irgendwelche Probleme?«fragte Renard.
»Keine«, erwiderte das Wesen. »Notfalls kann ich mich von einem der Gebäude ernähren.«
Sie gingen weiter zu dem größten Bauwerk, der großen Halle, wo Trelig hofgehalten und Gäste bewirtet hatte — freiwillige und unfreiwillige.
»Yulin?«sagte Mavra.
Er blieb stehen.
»Ja?«
»Sie sind sicher auch auf den Gedanken gekommen, daß ein paar Leute hätten überleben können, mit den Tieren und Früchten.«
Yulin nickte.
»Der Schwamm hätte sie längst umgebracht«, warf Renard ein.
»Sie vergessen, daß noch andere Leute da waren — Ratsmitglieder und ihre Vertreter. Darunter befanden sich widerstandsfähige Typen.«
Yulin überlegte.
»Es könnte sein«, gab er zu. »Wenn die Schwammsüchtigen sie nicht getötet haben.«
»Ein paar davon waren Agenten wie ich«, sagte Mavra. »Sie wären viel weniger leicht zu beseitigen gewesen, und die Zeit arbeitete für sie. Ich glaube, wir sollten lieber davon ausgehen, daß hier noch jemand lebt.«
»Der saubere Aufenthaltsraum«, sagte Yulin leise und schaute sich wachsam um. »Um den Rest haben sie sich allerdings nicht gekümmert.«
»Das ist wahr«, meinte Renard, »aber inzwischen sind zweiundzwanzig Jahre vergangen, eine Zeit ohne Hoffnung, ohne Verbindung mit der Außenwelt. Wer weiß, was für ein Leben das geworden sein mag, was in ihren Gehirnen ablief?«
»Richtig. Es gibt keine Leichen. Keine Skelette. Organisches zerfällt hier langsam, weil das Filtersystem alle Mikroorganismen beseitigt.«
»Ich sehe auch keine Gräber«, sagte Vistaru.
»Die wären überwuchert«, meinte Mavra. »Nein, wir unterstellen besser, daß wir hier nicht allein sind, und verhalten uns wie in einem feindseligen Hexagon.«
Yulin fiel plötzlich etwas ein.
»Das Schiff! Es ist nicht gesichert! Vielleicht sollten wir lieber —«
»Das finde ich auch«, sagte Wooly.
Nachdem sie das Raumschiff gesichert hatten, kehrten sie zu den Ruinen zurück. Strom war noch verfügbar, sogar die Videoanlagen, die alle Vorgänge überwachten. Abgesehen davon, daß ein Küchenbereich geplündert war, womit man hatte rechnen müssen, gab es aber keine Hinweise darauf, daß irgendein Bau bewohnt war.
»Viele können nicht überlebt haben, das steht fest«, sagte Renard. »Vielleicht drei, vier Leute. Möchte wissen, wo sie sind?«
Die Waffenkammer war mit einer Energiewaffe zugeschmolzen worden. Das hatte Mavra vor zweiundzwanzig Jahren getan, und es war unübersehbar, daß sich seitdem nichts geändert hatte. Einige Waffen lagen herum, ohne Ladung.
Es verging geraume Zeit, bis Renard, der die Welt am besten kannte, Hinweise darauf fand, daß jemand versucht hatte, in einem kleinen Raum unter den Gästequartieren eine Nachricht zu hinterlassen. Die Tür war von außen aufgebrochen worden. Im Inneren fand Renard Anzeichen eines Kampfes vor den Kommunikationsanlagen. Eine Recorder-Kapsel war eingelegt, und die Anlage funktionierte noch. Sie drängten alle herein, als Renard die Aufzeichnung zurücklaufen ließ.
»Das war der Monitorraum für Treligs Aufnahmestudio«, sagte er. »Manchmal holte er Musiker zusammen und hörte sich hier an, was aufgezeichnet wurde. Sie sehen die vielen hundert Kapseln im Wandschrank. Was auch geschehen sein mag, diese Kapsel ist die letzte Aufzeichnung hier. Vielleicht verrät sie uns etwas.«
Renard drückte auf die Starttaste. Ein Bildschirm flackerte, und ein Realton-Feld hüllte sie ein.
Das Gesicht war das einer jungen Frau, sehr hübsch und sanft.
»Gossyn!«rief Renard verblüfft.
»Ich bin Gossyn von Estuado«, sagte sie. »Eine von Antor Treligs ehemaligen Sklavinnen. Ich hinterlasse diese Aufzeichnung für den Fall, daß eines der Raumschiffe zurückkehrt. Für uns ist es zu spät. Heute nachmittag haben wir sämtliche Waffen im Haupthaus zusammengetragen, um die Gäste fernzuhalten. Wir sind alle schwammsüchtig, und ohne die Droge werden wir auf qualvolle Weise zugrunde gehen. Ich spüre schon, wie das Gift anfängt, mein Gehirn zu zerfressen. Wir, die letzten Sklaven Treligs, finden uns mit diesem Tod nicht ab. Als die Waffen zusammengetragen waren, stellten sich die anderen auf, und ich«- ihre Stimme brach, in ihren Augen standen Tränen —, »ich habe mit dem Energiegewehr auf sie geschossen. Von ihnen ist nichts geblieben als ein brauner Fleck. Ich werde die Gewehrladung auf Rückkopplung stellen und ebenfalls sterben — die letzte Sklavin, die letzte Waffe.«Sie verstummte gequält, und es dauerte geraume Zeit, bis sie weitersprach. »Was aus den Gästen wird, kümmert mich nicht. Sie wissen, daß diese kleine Welt nur wenige ernähren kann. Ich überlasse sie ihnen, in der Hoffnung, daß sie, wenn es Antor Trelig ist, der zurückkehrt, ihn langsam in Stücke reißen, wie es einem Dämon und Ungeheuer gebührt. Ich weiß nicht einmal, warum ich diese Aufzeichnung… aber — ach, verdammt, ich will einfach nicht sterben.«Sie unterdrückte ein Schluchzen. »Ich bin erst siebzehn«, stieß sie hervor und trat vor, bis sich das Bild verdunkelte.
Mavra seufzte tief.
»Schalten wir ab«, sagte sie, doch in diesem Augenblick wurde der Bildschirm wieder hell.
Sie sahen eine andere Person, eine kräftig aussehende Frau um die Dreißig.
Sie trug einen Overall.
Ihr Entsetzen war unverkennbar.
»O Gott!«sagte sie. »Wer das auch sehen mag! Wenn ihr zurückgekehrt und so weit gekommen seid!«Sie verstummte, als hinter ihr etwas polterte. »Er ist verrückt!«fuhr sie hastig fort. »Gestern haben die Wachen die Waffen zerstört und sich getötet. Dann begann jemand die anderen umzubringen.«Im Hintergrund hörte man heftiges Poltern und Hämmern. Sie drehte den Kopf, dann starrte sie wieder in die Kamera. »Einer von uns — er heißt Belden. Einer von Treligs Leuten, bei uns als Spion eingeschleust. Als sein Boß ihn im Stich ließ, schnappte er über — wenn er nicht vorher schon geisteskrank war.«Wieder das Hämmern, dann splitterte Holz. »Er ist wahnsinnig. Er bringt die Männer um. Manche von den Frauen — Trelig hat hier eine Schreckenskammer an Psycho-Geräten. Er benützt sie, um ihre Erinnerungen zu löschen und sie in Tiere zu verwandeln. Er ist wahnsinnig. Ich bin vielleicht die einzige, die noch lebt. Keine Zeit mehr. Seid vorsichtig. Bringt das Ungeheuer in meinem Namen um. Bitte! Ich —«
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