»Die Schuld reicht für uns alle, nicht wahr?«meinte er verlegen.
»Die Yaxa hatten beschlossen, sie zu beseitigen«, sagte Wooly. »Ortega erzählte mir die Geschichte, um meine Hilfe zu erlangen. Ich konnte verhindern, daß die Versuche Erfolg hatten. Deshalb war ich es schließlich, die man ausschickte, um sie einzufangen. Ich konnte mich auf niemanden sonst verlassen.«Sie sah Vistaru an. »Was dich angeht, so wußte ich zu der Zeit noch nichts. Ortega hat sich vor ein paar Jahren verplappert, und ich habe die Schlußfolgerungen dann selbst gezogen.«
»Wenn ich mich recht erinnere, hat Nathan Brazil den Schacht darauf programmiert, daß er ihn holt, wenn es ganz schlimm wird«, sagte Vistaru. »Warum geschah nichts, als Neu-Pompeii plötzlich am Himmel auftauchte?«
»Das kann ich beantworten«, erklärte Yulin. »Für den Schacht ist gar nichts Schlimmes passiert. Die Markovier wußten, daß irgendwann in der Zukunft eine ihrer Rassen die Fähigkeit erlangen würde, das Universum so zu manipulieren, wie sie es getan hatten. Zu diesem Zeitpunkt sollte der Schacht die junge Rasse zu sich holen und neue Anweisungen erhalten. Gewissermaßen eine Wachablösung. Was den Schacht betrifft, so wartet er einfach darauf, daß Obie oder sein Bedienungspersonal mit ihm sprechen. Das ist natürlich genauso, als warte man darauf, daß ein Affe den Koran zitiert. Die Markovier haben es falsch gemacht. Wir haben das Geheimnis zu früh aufgedeckt, und unsere Anlagen können nicht einmal die Daten des Schachts aufnehmen, geschweige denn mit dem Schacht reden und ihm Befehle geben. Obie weigert sich, und das mit einer gewissen Berechtigung. Was ist, wenn er eine falsche Anweisung erteilt und die Menschheit auslöscht?«
Es war ein ernüchternder Gedanke.
»Sie sagen immer ›er‹, wenn Sie von Ihrem Computer sprechen«, meinte Wooly. »Warum?«
Yulin lachte leise.
»Er ist wirklich eine Person und sieht sich als männlich. Computer mit Eigenbewußtsein gibt es schon seit tausend Jahren — ihr kennt bestimmt welche. Aber es hat noch nie einen wie Obie gegeben. Er ist wirklich eine Person, so menschlich wie wir. Wenn ihr ihn seht und hört, wißt ihr, was ich meine.«
Sie verstummten. Plötzlich hob Renard den Kopf. Seine Augen funkelten. Er stand auf und ging zu Mavra zurück, die sich immer noch nicht rührte.
»Also, Mavra Tschang«, sagte er scharf. »Sie haben jetzt alles gehört. Entschließen Sie sich. Das Schiff wird heute über die Grenze kommen und in ein, zwei Tagen startbereit sein. Wollen Sie dabeisein? Wenn Sie sich nicht zusammenreißen, gehen Sie durch den Schacht, wie Sie es schon vor zweiundzwanzig Jahren hätten tun sollen. Entscheiden Sie sich! Auf der Stelle! Was ist überhaupt los mit Ihnen? «
Etwas schien zu ihr durchzudringen. Ihre Atmung wurde langsam kräftiger, das Leben schien in sie zurückzukehren.
»Warum hat er das getan, Renard? Sagen Sie mir das!«
»Wie? Warum hat wer was getan?«
»Warum ist Joshi dazwischengesprungen? Es war Wahnsinn. Ich kann das nicht verstehen. Ich — ich würde nie bewußt mein Leben für einen anderen opfern, Renard. Warum er?«
Das war es also. Er sah ihr in die Augen.
»Weil er Sie geliebt hat, Mavra.«
Sie schüttelte den Pferdekopf.
»Wie kann jemand ein anderes Wesen so lieben? Ich begreife das einfach nicht.«
»Ich eigentlich auch nicht«, sagte er. »Ich glaube, keiner von uns kann es ganz verstehen. Willkommen im Land der egoistischen Heuchler.«Er seufzte und lächelte.
Sie drehte sich herum und sah die anderen an.
»Seid ihr beiden wirklich meine Großeltern? Die Geschichten von der Sechseck-Welt und von Nathan Brazil: Das ist alles wahr?«Vistaru nickte.
»Und Nathan war beteiligt, auch wenn wir scheiterten«, sagte sie. »Ortega erhielt gelegentlich Mitteilungen von Brazil, über Schacht-Tore. Sie waren für uns gedacht, aber der Schlangen-Mann hat sie, vielleicht klugerweise, für sich behalten. Er hielt es für besser, daß wir nicht wußten, wer oder was der andere war, oder was mit dir und Vashy und den anderen geschehen ist. Es war Brazil, der, als er Maki Tschang nicht zu warnen vermochte, dafür sorgte, daß man dich nicht fand. Es war Brazil, der den alten Bettlerkönig dazu brachte, für dich zu sorgen. Es war Brazil, der Gymball Nysongi mit dir zusammenbrachte. Er deckte dich, als Nysongi umgebracht wurde. Und so weiter und so fort. Das steht alles in den Berichten in Ortegas Büro.«
Sie war wie vor den Kopf geschlagen.
»Was ist?«sagte Renard aufgeregt. »Ich finde das wunderbar, daß jemand sich so für einen einsetzt.«
»Es ist schrecklich, grauenhaft!«fuhr sie ihn an. »Versteht ihr denn nicht? Das macht mein ganzes Leben zu einer Lüge. Ich habe nicht alles aus eigener Kraft erreicht. Ich habe überhaupt nichts selbst erreicht. Die ganze Zeit hat mir ein unsterblicher Super-Markovier geholfen.«
Er verstand sie, auch wenn die anderen dazu nicht imstande waren. Das einzige, was sie hatte, was dazu beigetragen hatte, sie aufrecht zu halten, war ihr ungeheures Selbstbewußtsein gewesen, ihr Ich, ihr Glaube an ihre Fähigkeit, allen Widerständen zu trotzen und alle Hindernisse zu überwinden. Es blieb sehr wenig, wenn man das wegnahm — in Mavras Fall nur ein von Tragik berührtes kleines Mädchen, einsam und allein; ein intelligentes Pferd, aber ein abhängiges Spielzeug.
»Ich verstehe«, sagte Renard leise und traurig. »Aber jetzt sind Sie auf sich selbst gestellt, Mavra. Sie sind es schon, seit Sie aus Glathriel geflohen sind.«
Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Es war nicht wahr. Joshi strafte die Behauptung Lügen. Sie haßte ihn plötzlich mit einer Wut, die jeder Vernunft trotzte.
Denn er hatte sein Leben für sie gegeben; das war das Höchste an Einmischung.
Und nun war sie nur noch Mavra Tschang, eine leere Hülse in einer Hülse, allein, hilflos und abhängig. Für immer im Dunkel.
* * *
»He! Ich glaube, ich kann es sehen!«rief Ben Yulin über das Funkgerät im Raumanzug. Er war aufgeregt wie ein kleiner Junge.
Keine zwei Kilometer entfernt lag die Grenze von Uchjin, wo er vor so vielen Jahren notgelandet war. Seitdem hatte er sich immer wieder gefragt, wie man, wenn irgend jemand nach Norden zu gelangen vermochte, das Schiff herausholen konnte. Es war ungeheuer schwer, befand sich nicht im Gleichgewicht und konnte durch mechanische Kräfte nicht bewegt werden, weil es in einem nicht-technischen Hex lag. Überdies hatten die fließenden Farbflecke, die Uchjin, Einwände dagegen, es zu bewegen.
»Das größte Problem war, es von der Stelle zu bewegen«, sagte der Bozog. »Die Uchjin sind Nachtwesen, bei Tageslicht völlig machtlos, also führten wir die Arbeiten hauptsächlich tagsüber durch, und nachts wehrten wir Angriffe mit Phosphorgelee ab. Das Licht war ihnen einfach zu hell.«
»Wie man in der Wildnis ein Lagerfeuer anzündet, um die wilden Tiere fernzuhalten.«Yulin nickte. »Aber wie bewegen Sie es?«
»Natürlich langsam«, gab der Bozog zu. »Die Arbeit nahm mehrere Wochen in Anspruch. Wir fingen an, als wir von dem Durchbruch im Verkehr vom Süden zum Norden erfuhren. Es muß ganz allein mit Muskelkraft geschehen — wir haben es mit Ketten, Flaschenzügen und dergleichen auf eine riesige Plattform gehoben, was allein neun Tage dauerte, und seither ziehen zwölftausend Bozog es in Schichten heraus. Heute wird das gewaltige Projekt abgeschlossen.«
»Das sind ungeheure Anstrengungen«, meinte Yulin. »Warum habt ihr das getan?«
»Es war eine Herausforderung, ein gigantisches Unternehmen«, erwiderte der Bozog. »Bozog wird noch nach Generationen davon sprechen. Ein enormes technisches Problem, das gelöst wurde. Beweis dafür, daß jedes Problem gelöst werden kann, wenn man genug Gedanken und Energie darauf verwendet.«
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