Eines Tages würde die Menschheit wieder für den Weltraum bereit sein.
Welche neuen Kapitel der Mensch unter den Sternen schreiben würde, wußte Alvin nicht. Das ging ihn nichts an; seine Zukunft lag hier auf der Erde.
Aber er würde noch einen Flug unternehmen, ehe er den Sternen den Rücken kehrte.
Als Alvin das emporstrebende Schiff bremste, lag die Stadt zu weit entfernt, um noch als Menschenwerk zu erscheinen, und man konnte bereits die Wölbung der Erdkugel sehen. Bald darauf sahen sie die Dämmerungsgrenze, die Tausende Kilometer entfernt über die Wüste vordrang. Über und neben ihnen funkelten die Sterne.
Hilvar und Jeserac schwiegen; sie ahnten Alvins Gründe für diesen Flug, ohne sie jedoch genau zu kennen. Keinem war nach Reden zumute, als sich das trostlose Panorama unter ihnen ausbreitete. Diese Leere bedrückte sie beide, und Jeserac fühlte plötzlich verächtlichen Zorn gegen die Menschen der Vergangenheit in sich aufsteigen, die durch ihre Nachlässigkeit die Schönheit der Erde auf dem Gewissen hatten.
Er hoffte, daß Alvin recht hatte, wenn er davon träumte, all das ändern zu können. Macht und Wissen dafür existierten noch — es bedurfte nur noch des Willens, die Jahrhunderte zurückzudrehen und die Meere wieder zu füllen. Das Wasser war noch da, tief unten in der Erde; oder man konnte Umwandlungsanlagen bauen, die es produzierten.
In den vor ihnen liegenden Jahren gab es so viel zu tun. Jeserac wußte, daß er zwischen zwei Zeitaltern stand, überall um ihn herum konnte er fühlen, wie der Puls der Menschheit wieder schneller zu schlagen begann. Man stand vor großen Problemen — aber Diaspar würde sich nicht abwenden.
Alvin unterbrach seine Träumerei; und Jeserac wandte sich zum Bildschirm.
„Ich wollte, daß du das siehst“, sagte Alvin leise. „Du wirst vielleicht nie mehr Gelegenheit dazu bekommen.“
„Willst du die Erde verlassen?“
„Nein. Ich will mit dem Weltraum nichts mehr zu tun haben. Selbst wenn noch andere Zivilisationen in dieser Galaxis überlebt haben sollten, dürfte sich die Mühe, sie zu finden, nicht lohnen.
Hier gibt es. soviel zu tun. Ich weiß jetzt, daß das meine Heimat ist, und ich werde sie nicht wieder verlassen.“
Er schaute auf die großen Wüsten hinab, aber seine Augen sahen die Wasserfluten, die in tausend Jahren dort wogen würden. Der Mensch hatte seine Welt wieder entdeckt, und er würde ihr Schönheit geben, solange er dort lebte. Und danach — „Wir sind noch nicht bereit, zu den Sternen zu fliegen, und es wird noch lange Zeit dauern, bis wir ihre Herausforderung annehmen können. Ich habe mich gefragt, was ich mit diesem Schiff tun soll. Wenn es hier auf der Erde bleibt, wird es mich immer reizen, so daß ich nie zur Ruhe kommen kann. Aber ich darf es nicht vergeuden; es ist mir irgendwie anvertraut, und ich muß es zum Wohl der Erde einsetzen.
Ich habe mich daher zu Folgendem entschlossen. Ich werde es aus der Galaxis hinausschicken, mit dem Roboter am Steuer; es soll entdecken, was mit unseren Vorfahren geschehen ist — und, wenn möglich, was sie suchten, als sie unser Universum verließen. Es mußte etwas Herrliches gewesen sein, sonst hätten sie nicht soviel aufgegeben.
Der Roboter wird nie müde werden, solange die Fahrt auch dauern mag.
Eines Tages werden unsere Verwandten meine Botschaft erhalten und wissen, daß wir sie hier auf der Erde erwarten. Sie werden zurückkehren, und ich hoffe, daß wir ihrer bis dahin wert sein werden, wie mächtig sie auch geworden sein mögen.“
Alvin schwieg und starrte in eine Zukunft, die er geformt hatte, aber vielleicht nie sehen würde. Während der Mensch seine Welt wieder aufbaute, würde dieses Schiff das Dunkel zwischen den Galaxien durchbrechen, und nach Tausenden von Jahren würde es zurückkommen. Vielleicht war er dann noch hier, um es zu empfangen, aber auch wenn es nicht sein sollte, würde er zufrieden sein.
„Ich glaube, du handelst klug“, sagte Jeserac. Dann stieg zum letztenmal das Echo einer alten Furcht in ihm auf. „Aber nimm einmal an“, fügte er hinzu, „daß das Schiff mit Wesen in Berührung kommt, die wir nicht treffen wollen…“
Seine Stimme erstarb, als er den Ursprung seiner Furcht erkannte, und sein bedauerndes Lächeln bannte den letzten Schatten der Invasoren.
„Du vergißt“, sagte Alvin, den Einwand ernster nehmend, als Jeserac erwartet hatte, „daß uns bald Vanamonde helfen kann. Wir wissen nicht, welche Kräfte er besitzt, aber alle Leute in Lys vertreten die Auffassung, daß sie praktisch unbegrenzt sind. Nicht wahr, Hilvar?“
Hilvar antwortete nicht sofort. Es war richtig, daß Vanamonde das andere große Rätsel, das Fragezeichen über der Zukunft der Menschheit war, solange er auf der Erde weilte. Schon wurde Vanamondes Entwicklung durch seine Berührung mit den Denkern von Lys wesentlich beschleunigt. Sie legten große Erwartungen auf eine zukünftige Zusammenarbeit mit dem kindlichen Superverstand, weil sie glaubten, die Äonen seiner natürlichen Entwicklung abkürzen zu können.
„Ich bin mir nicht ganz sicher“, gestand Hilvar. „Irgendwie, glaube ich, sollten wir nicht allzuviel von Vanamonde erwarten. Wir können ihm jetzt helfen, aber in seiner gesamten Lebensspanne werden wir nur ein ganz kurzes Ereignis sein. Ich glaube nicht, daß seine Bestimmung letzten Endes mit unserem Schicksal etwas zu tun hat.“
Alvin sah ihn überrascht an.
„Warum glaubst du das?“ fragte er.
„Ich kann es nicht erklären“, sagte Hilvar. „Es ist nur ein Gefühl.“ Er hätte mehr hinzufügen können, aber er schwieg. Diese Dinge waren nicht mitteilbar, und obgleich Alvin über seinen Traum nicht gelacht hätte, wollte er ihn doch mit seinem Freund nicht einmal besprechen.
Es war mehr als ein Traum, das wußte er, und er würde ihn immer verfolgen. Irgendwie war er in seinen Verstand gedrungen, während der unbeschreiblichen Berührung mit Vanamondes Verstand. Wußte Vanamonde selbst, wohin ihn sein einsames Schicksal führte?
Eines Tages würden die Energien der Schwarzen Sonne vergehen und ihren Gefangenen freilassen. Und dann, am Ende des Universums, würden sich Vanamonde und das Irre Gehirn unter den Leichen der Sterne gegenüberstehen müssen.
Dieser Kampf würde vielleicht den Vorhang über der Schöpfung für immer zum Fallen bringen. Aber diese Auseinandersetzung hatte mit dem Menschen nichts zu tun, und ihr Ausgang würde ihm immer verborgen bleiben…
„Schaut!“ sagte Alvin plötzlich. „Das wollte ich euch zeigen.
Versteht ihr, was das bedeutet?“
Das Raumschiff schwebte über dem Pol, und die Erde unter ihnen bildete eine vollkommene Halbkugel. Als sie auf den Dämmergürtel hinabblickten, konnten Hilvar und Jeserac im selben Augenblick Sonnenaufgang und Sonnenuntergang auf den entgegengesetzten Seiten der Welt sehen. Das Sinnbild war so vollkommen, so eindrucksvoll, daß sie es ihr Leben lang nicht vergaßen.
In diesem Universum brach die Nacht herein; die Schatten dehnten sich einem Osten entgegen, der keine neue Dämmerung kannte. Aber anderswo waren die Sterne noch jung; auf dem Pfad, den er einst zurückgelegt hatte, würde der Mensch eines Tages wieder vorwärtsschreiten.