Das Warten wurde ziemlich unbehaglich. Mit jedem Tag schien sich die Anzahl der Palastwachen und der Stadtpolizisten in den Straßen von Erhenrang zu vervielfachen; sie waren bewaffnet und entwickelten sogar eine Art Uniform. Die Atmosphäre in der Stadt war düster, obgleich die Geschäfte prächtig gediehen, der Wohlstand allgemein verbreitet und das Wetter schön war. Niemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Meine ›Zimmerwirtin‹ führte niemanden mehr voll Stolz durch mein Zimmer, sondern beschwerte sich über die ›Leute aus dem Palast‹, die sie belästigten, und behandelte mich dieserhalb nun weniger wie eine hochgeehrte Attraktion, sondern eher wie einen politisch Verdächtigen. Tibe hielt eine Rede über einen Streit im Sinoth-Tal: tapfere karhidische Farmer, echte Patrioten^ waren über die Grenze südlich von Sassinoth vorgestoßen, hatten ein Orgotadorf überfallen, es niedergebrannt, neun Dorfbewohner getötet und dann die Leichen mit zurückgeschleppt, um sie in den Ey-Fluß zu werfen — ›ein Grab‹, so der Regent, ›wie es allen Feinden unserer Nation zuteil werden wird‹! Ich hörte diese Rundfunkübertragung, als ich im Speisesaal meiner Insel saß. Manche Leute machten ein grimmiges Gesicht, während sie lauschten, andere wirkten uninteressiert, wieder andere höchst zufrieden; in allen Gesichtern jedoch, so verschieden ihre Mienen auch sein mochten, gab es ein gemeinsames Element, einen kleinen Tic, einen Muskelkrampf, der vorher nicht da gewesen war: einen Ausdruck von Besorgnis.
Am selben Abend noch hatte ich in meinem Zimmer einen Besucher — den ersten seit meiner Rückkehr nach Erhenrang. Es war ein zierlicher, scheuer Mann mit glatter Haut, der die Goldkette eines Weissagers trug: einer der Zölibatäre.»Ich bin der Freund eines Mannes, der Ihnen Freundschaft gegeben hat«, sagte er mit jener Schroffheit, die typisch für die Schüchternen ist.»Ich bin gekommen, Sie um einen Gefallen zu bitten — für ihn.«
»Meinen Sie Faxe?«
»Nein. Estraven.«
Anscheinend war der zuvorkommende Ausdruck auf meinem Gesicht verschwunden. Es gab eine kleine Pause; dann sagte der Fremde:»Estraven, der Verräter. Vielleicht erinnern Sie sich an ihn.«
Zorn hatte seine Befangenheit verdrängt, und eindeutig beabsichtigte er jetzt, shifgrethor mit mir zu spielen. Wollte ich mitspielen, mußte ich jetzt etwa sagen: ›Ich bin nicht ganz sicher; erzählen Sie mir Näheres über ihn.‹ Aber ich wollte nicht mitspielen und hatte mich außerdem inzwischen an das vulkanische Temperament der Karhider gewöhnt. Also begegnete ich seinem Zorn mit Geringschätzung und sagte:»Gewiß erinnere ich mich.«
»Aber nicht mit Freundschaft.«Seine dunklen, schräg abwärts gestellten Augen blickten offen und durchdringend.
»Nun ja, vielleicht eher mit Dankbarkeit und Enttäuschung. Hat er Sie zu mir geschickt?«
»Nein, das hat er nicht.«
Ich erwartete, daß er sich näher erklären würde.
Aber er sagte:»Verzeihen Sie. Ich war vermessen; ich akzeptiere, was mir die Vermessenheit eingebracht hat.«
Ich hielt den steifen, kleinen Burschen auf, als er sich schon der Tür zuwandte.»Aber bitte: Ich weiß weder, wer Sie sind, noch was Sie von mir wollen. Ich habe mich nicht geweigert, ich habe lediglich nicht zugesagt. Dieses Recht müssen Sie mir doch als angebrachte Vorsichtsmaßnahme zugestehen. Estraven wurde verbannt, weil er meine Mission in diesem Land unterstützte…«
»Sind Sie der Ansicht, daß Sie dafür in seiner Schuld stehen?«
»In gewissem Sinne — ja. Doch die Mission, in der ich hierher gekommen bin, ist wichtiger als alle persönlichen Schulden und Treueverhältnisse.«
»Wenn das so ist«, entgegnete der Fremde hitzig, aber bestimmt,»dann ist es eine unmoralische Mission.«
Das verschlug mir den Atem. Er sprach wie ein Vertreter der Ökumene, und ich fand keine Antwort darauf.»Das glaube ich eigentlich nicht«, sagte ich schließlich.»Die Unzulänglichkeit liegt wohl beim Boten, nicht in der Botschaft. Doch bitte erklären Sie mir jetzt, um was Sie mich bitten wollten.«
»Ich habe bestimmte Gelder, Mieteinnahmen und Schuldzurückzahlungen, in meinem Besitz, die ich aus den Trümmern des Vermögens meines Freundes retten konnte. Da ich hörte, daß Sie nach Orgoreyn reisen, wollte ich Sie bitten, ihm dieses Geld zu geben, falls Sie ihn finden. Wie Sie bestimmt wissen, wäre das eine strafbare Handlung. Außerdem wäre sie vielleicht umsonst. Er kann in Mishnory sein, er kann auf einer dieser verdammten Farmen sein, er kann aber auch tot sein. Das festzustellen, habe ich keine Möglichkeit. Ich habe keine Freunde in Orgoreyn, und auch niemanden hier, den ich darum zu bitten wage. Ich stellte mir vor, daß Sie jemand wären, der über der Politik steht, der kommen und gehen kann, wie er will. Daß Sie Ihre eigene Politik verfolgen, daran hatte ich allerdings nicht gedacht. Ich entschuldige mich für meine Dummheit.«
»Ich werde das Geld mitnehmen. Wenn er aber tot oder unauffindbar ist — an wen soll ich es dann zurücksenden?«
Er starrte mich an. In seinem Gesicht arbeitete es, und er schluckte. Die meisten Karhider weinen sehr leicht; sie schämen sich ihrer Tränen ebenso wenig, wie sie sich ihres Lachens schämen.»Ich danke Ihnen«, sagte er.»Mein Name ist Foreth. Ich bin ein Bewohner der Festung Orgny.«
»Gehören Sie zu Estravens Clan?«
»Nein. Foreth rem ir Osboth: Ich war sein Kemmering.«
Als ich Estraven kannte, hatte er keinen Kemmering gehabt, aber ich konnte einfach kein Mißtrauen gegen diesen Burschen hegen. Er wurde vielleicht, ohne es zu wissen, von anderen für ihre Zwecke benutzt, er selber aber war aufrichtig. Und hatte mir überdies eine Lehre erteilt: daß man shifgrethor auch auf dem Gebiet der Ethik spielen kann, und daß der bessere Spieler gewinnt. Er hatte mich mit zwei Zügen in die Enge getrieben.
Er hatte das Geld bei sich und überreichte es mir: eine beträchtliche Summe in Königlich-Karhidischen- Handelskreditnoten, die mich nicht inkriminieren, mich aber auch nicht hindern konnten, sie einfach auszugeben.
»Wenn Sie ihn finden…«Er stockte.
»Eine Nachricht?«
»Nein. Nur, wenn ich wüßte…«
»Wenn ich ihn finde, werde ich versuchen, Ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen.«
»Danke«, sagte er und streckte mir beide Hände entgegen — eine Freundschaftsgeste, die Karhider nur sehr selten machen.»Ich wünsche Ihnen Erfolg mit Ihrer Mission, Mr. Ai. Er — Estraven — hat fest daran geglaubt, daß Sie hierhergekommen sind, um Gutes zu wirken, das weiß ich. Er hat von ganzem Herzen daran geglaubt.«
Für diesen jungen Mann gab es auf der ganzen Welt nichts außer Estraven. Er gehörte zu denjenigen, die dazu verdammt sind, nur einmal zu lieben. Ich fragte ihn noch einmal:»Wollen Sie ihm denn gar nichts ausrichten lassen?«
»Sagen Sie ihm, daß es den Kindern gutgeht«, erwiderte er nun zögernd. Und dann: »Nusuth, unwichtig.«Er ging.
Zwei Tage später verließ ich Erhenrang — dieses mal auf der Nordweststraße und zu Fuß. Meine Einreiseerlaubnis für Orgoreyn war weit eher eingetroffen als ich es nach dem Verhalten der Angestellten und Beamten der Orgota-Botschaft erwartet hatte, ja als sie es selber anscheinend erwartet hatten; als ich die Papiere abholen wollte, behandelten sie mich mit einem gewissen giftigen Respekt, wohl weil man auf Veranlassung irgendeiner einflußreichen Persönlichkeit das Protokoll und sämtliche Vorschriften meinetwegen einfach beiseitegeschoben hatte. Da es in Karhide überhaupt keine Vorschriften über das Verlassen des Landes gibt, machte ich mich augenblicklich auf den Weg. Während des Sommers hatte ich gelernt, wie angenehm es sein kann, in Karhide zu wandern. Straßen und Gasthäuser sind nicht nur für Motorfahrzeuge, sondern auch für den Fußverkehr eingerichtet, und wo es einmal kein Gasthaus gibt, kann man sich getrost auf das Gesetz der Gastfreundschaft verlassen. Die Bewohner der Co-Domänen, die Dörfler, Farmer und Domänenherren gewähren jedem Reisenden Nahrung und Unterkunft: drei Tage lang nach dem Gesetz, in der Praxis jedoch viel länger. Und was das beste ist: Man wird überall ohne Aufhebens empfangen und willkommen geheißen, als wäre man schon erwartet worden.
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