Sie saßen weit verteilt in dieser weiten, staubigen Dunkelheit. Manchmal unterhielten sich zwei eine Zeitlang im Flüsterton. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl gemeinsamer Gefangenschaft gab es nicht. Ebenso wenig gab es Klagen.
Einmal hörte ich jemanden zu meiner Linken wispern:»Ich habe ihn gesehen, auf der Straße, direkt vor meiner Tür. Sie haben ihm den Kopf weggeschossen.«
»Ja, ja, sie schießen mit diesen Gewehren, die kleine Metallstücke abfeuern. Streitgewehre.«
»Tiena behauptet, daß sie gar nicht von Passerer, sondern mit Lastwagen von der Ovord-Domäne gekommen sind.«
»Aber es gibt doch gar keinen Streit zwischen Ovord und Siuwensin…«
Sie begriffen nicht; sie klagten nicht. Sie protestierten nicht einmal dagegen, daß sie von ihren Mitbürgern in einen Keller eingesperrt worden waren, nachdem man sie mit Waffengewalt und Mordbrennerei aus ihren Häusern verjagt hatte. Sie suchten nicht nach Gründen für das, was ihnen zugestoßen war. Das Flüstern im Dunkeln, ohnehin nur selten und sehr ruhig, leise Worte in der weichen Orgota-Sprache, neben der Karhidisch klingt wie eine Gießkanne voll Kieselsteine, hörte allmählich auf. Die Leute schliefen. Nur ein Baby gab noch keine Ruhe; es weinte, weit hinten in der Dunkelheit, weil es sich vor dem Echo seines Weinens fürchtete.
Die Tür öffnete sich quietschend, und es war hellichter Tag. Die Sonne schnitt mir wie mit Messern in die Augen — blendend und unerträglich grell. Benommen stolperte ich hinter den anderen her ins Freie und wollte ihnen automatisch folgen, als ich meinen Namen hörte. Ich hätte ihn beinahe nicht erkannt, denn die Orgota können das ›1‹ aussprechen. Irgend jemand hatte, nachdem die Tür aufgeschlossen worden war, immer wieder nach mir gerufen.
»Bitte, hier entlang, Mr. Ai«, forderte mich ein gehetzt wirkender Mann in Rot höflich auf, und plötzlich war ich kein Flüchtling mehr. Ich wurde erhoben über diese Namenlosen, mit denen ich die dunkle Straße entlanggeflohen war, und deren Identitätslosigkeit ich die ganze Nacht lang in jenem dunklen Gefängnis geteilt hatte. Ich hatte einen Namen, ich war bekannt, akzeptiert; ich existierte. Das war eine ungeheure Erleichterung. Ich folgte der Aufforderung des Mannes in Rot mit Freuden.
Im Büro der Ortscommensal-Farmzentralität herrschte eine hektische, erregte Atmosphäre, aber man nahm sich Zeit, sich um mich zu kümmern, und entschuldigte sich bei mir für die Unbequemlichkeiten der vergangenen Nacht.»Wenn Sie die Commensalität nur nicht ausgerechnet bei Siuwensin betreten hätten!«jammerte ein dicker Inspektor.»Wenn Sie sich nur an die üblichen Straßen gehalten hätten!«Man wußte weder, wer ich war, noch warum mir diese Sonderbehandlung zuteil wurde; die allgemeine Unkenntnis trat deutlich zutage, spielte aber überhaupt keine Rolle. Genly Ai, der Gesandte, war als bedeutende Persönlichkeit zu behandeln, und so behandelte man mich auch. Am Nachmittag schon war ich unterwegs nach Mishnory — in einem Wagen, den mir die Commensal- Farmzentralität Ost-Homsvashom, achter Distrikt, zur Verfügung gestellt hatte. Ich hatte einen neuen Paß, einen Freischein für alle Passantenhäuser an meiner Route und eine telegraphische Einladung in die Mish’nory-Residenz des Ersten Commensal-Distriktkommissars für Einreise-Straßen und -Häfen.
Das Radio des kleinen Wagens schaltete sich gleichzeitig mit dem Motor ein und lief, solange der Wagen fuhr, so daß ich den ganzen Nachmittag hindurch die Rundfunksendungen hörte, während ich durch die weiten, flachen Getreideanbaugebiete Ost-Orgoreyns rollte, wo es, weil keine Viehherden, auch keine Zäune, dafür aber zahllose Flußläufe gab. Das Radio informierte mich über das Wetter, die Ernte, den Straßenzustand; sie ermahnten mich, vorsichtig zu fahren; sie brachten die verschiedensten Nachrichten aus allen dreiunddreißig Distrikten, meldeten den Ausstoß der verschiedensten Fabriken, berichteten über den Reedereibetrieb in den verschiedenen See- und Flußhäfen; sie unterhielten mich mit ein paar Yomesh-Gesängen und informierten mich dann wieder über das Wetter. Nach all den pathetischen Reden, die ich in Erhenrang über das Radio zu hören bekommen hatte, kam mir das alles überaus zurückhaltend vor. Der Überfall auf Siuwensin wurde mit keinem Wort erwähnt; die Regierung von Orgoreyn wollte offenbar eher jede Erregung vermeiden, statt sie zu schüren. Ein kurzes, offizielles Bulletin, das in regelmäßigen Abständen wiederholt wurde, erklärte lediglich, daß die Ordnung an der Ostgrenze aufrechterhalten werde und bleibe. Das gefiel mir; es klang beruhigend und nicht provozierend und besaß jene gelassene Härte, die ich an den Gethenianern schon immer bewundert hatte: die Ordnung wird aufrechterhalten… Jetzt war ich froh, Karhide hinter mir gelassen zu haben, dieses zerrissene Land, das von einem paranoiden, schwangeren König und einem egomanischen Regenten zur Gewalttätigkeit aufgehetzt wurde. Ich war froh, in einem Wagen zu sitzen und ruhig, mit einer Stundengeschwindigkeit von fünfundzwanzig Meilen, unter einem gleichmäßig grauen Himmel durch weite, von geraden Furchen durchzogene Kornfelder einer Hauptstadt entgegenzufahren, deren Regierung an die Ordnung glaubte.
Die Straße war ausgezeichnet beschildert (ganz anders als in Karhide, wo es keine Wegweiser gab und man die Richtung, die man einzuschlagen hatte, entweder erraten oder erfragen mußte), und sogar mit Hinweisen auf die Inspektionsstation dieser oder jener Commensalregion versehen; an diesen inneren Zollhäusern mußte man seine Personalpapiere vorzeigen und seine Durchfahrt registrieren lassen. Meine Papiere passierten alle Kontrollen, ich wurde nach einem kaum nennenswerten Aufenthalt höflich weitergewinkt und erhielt darüber hinaus höfliche Auskunft, wie weit es, falls ich essen oder schlafen wollte, zum nächsten Passantenhaus sei. Bei einer Stundengeschwindigkeit von fünfundzwanzig Meilen ist es ein langer Weg vom Nordfall bis nach Mishnory, so daß ich zweimal unterwegs übernachten mußte. Das Essen in den Passantenhäusern war langweilig, aber reichlich, die Unterbringung anständig, nur ohne jede Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Letzteres wurde allerdings durch die Zurückhaltung meiner Mitreisenden zu einem gewissen Grade wettgemacht. Ich schloß bei keiner meiner Übernachtungen eine Bekanntschaft, ja, konnte nicht einmal ein Gespräch anknüpfen, obgleich ich es mehrere Male versuchte. Die Orgota schienen zwar kein unfreundliches, aber auch kein neugieriges Volk zu sein; sie waren farblos, ruhig, verhalten. Ich mochte sie. In Karhide hatte ich zwei Jahre lang Farbe, Temperament und Leidenschaft genossen. Eine Abwechslung war mir willkommen.
Am Ostufer des großen Kunderer-Stromes entlang, gelangte ich am späten Vormittag des dritten Tages meiner Reise durch Orgoreyn nach Mishnory, der größten Hauptstadt dieser Welt.
Im schwachen Licht der Sonne, die ab und zu zwischen herbstlichen Regenschauern durchbrach, wirkte die Stadt sonderbar: nur nackte Steinwände, in denen die vereinzelten, schmalen Fenster viel zu hoch oben saßen, breite Straßen, in denen die Menschen wie Zwerge wirkten, Straßenlampen auf lächerlich hohen Laternenpfählen, Dächer, so steil wie betende Hände, Remisendächer, die wie riesige, sinnlose Bücherregale sechs Meter weit über dem Boden aus den Hauswänden ragten — im Sonnenlicht eine unproportionierte, groteske Stadt. Aber sie war auch nicht für das Sonnenlicht gebaut. Sie war für den Winter gebaut. Im Winter, wenn diese Straßen drei Meter hoch mit fest gepacktem, hart gewalztem Schnee bedeckt sind, wenn Eiszapfen an den steilen Dächern hängen, wenn Schlitten unter den Remisendächern parken und die schmalen Fensterschlitze gelblich durch den dahintreibenden Schneeregen schimmern — im Winter würde ein jeder die Zweckmäßigkeit dieser Stadt, ihre sinnvolle Architektur und ihre Schönheit erkennen.
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