Auf Schlängelpfaden zog ich durch das herrliche, sanft ansteigende Land zwischen Sess und Ey, nahm mir viel Zeit und arbeitete auch wohl einmal für mein Essen auf den Feldern der großen Domänen, wo gerade die Ernte eingebracht und jede Hand, jedes Werkzeug und jede Maschine gebraucht wurde, damit die goldenen Felder geschnitten werden konnten, bevor das Wetter umschlug. Sie war ganz und gar golden, ganz und gar freundlich, diese Woche meiner Wanderung, und des Abends, bevor ich schlafen ging, trat ich noch einmal aus dem dunklen Bauernhaus oder der vom Feuer erleuchteten Herdhalle, wo ich untergebracht war, in die Nacht hinaus, um ein stückweit über die trockenen Stoppeln zu wandern und zu den Sternen hinaufzuschauen, die in der windgefegten Herbstdunkelheit wie ferne Städte leuchteten.
Es fiel mir tatsächlich schwer, dieses Land zu verlassen, das zwar dem Gesandten gegenüber so gleichgültig, dem Fremden gegenüber jedoch so freundlich war. Ich mochte nicht noch einmal von vorn anfangen, noch einmal versuchen, meine Botschaft wieder in einer neuen Sprache neuen Zuhörern zu erläutern, um dann vielleicht noch einmal zu versagen. So wanderte ich mehr nach Norden als nach Westen und rechtfertigte diesen Kurs mit meinem Wunsch, das Sinoth-Tal, den Schauplatz der Rivalität zwischen Karhide und Orgoreyn, zu sehen. Obgleich das Wetter immer noch schön blieb, wurde es langsam kälter, und schließlich drehte ich, noch ehe ich Sassinoth erreichte, nach Westen ab, weil mir nämlich eingefallen war, daß dort ein Zaun die Grenze bildete und ich an dieser Stelle womöglich nicht so einfach aus Karhide hinauskam. Hier dagegen bildete der Ey die Grenze, ein schmaler, aber wilder Fluß, und, wie alle Flüsse des Großen Kontinents, von einem Gletscher gespeist. Auf der Suche nach einer Brücke, marschierte ich wieder mehrere Meilen nach Süden zurück, und fand schließlich eine, die zwei kleine Dörfer verband: Passerer auf der Karhide-Seite und Siuwensin in Orgoreyn. Verschlafen starrten sie einander über den Ey hinweg an.
Der Karhidische Brückenwärter fragte mich lediglich, ob ich beabsichtige, noch in dieser Nacht zurückzukehren, und winkte mir dann, ich könne hinübergehen. Auf der Orgota-Seite wurde ein Inspektor herausgerufen, der meinen Paß und meine Papiere inspizierte und dafür eine ganze Stunde benötigte — eine karhidische Stunde! Er zog meinen Paß ein, erklärte mir, ich könne ihn mir am nächsten Morgen abholen, und gab mir dafür ein Permiso für Mahlzeiten und Unterkunft im Commensal-Passantenhaus von Siuwensin. Eine weitere Stunde verbrachte ich im Büro des Verwalters dieses Passanten-Hauses, während der Verwalter meine Papiere prüfte und sich per Telefongespräch mit dem Inspektor der Commensal-Grenzstation, von der ich gerade kam, von der Echtheit meines Permiso überzeugte.
Es ist mir unmöglich, das Orgota-Wort, das hier als ›Commensal‹, ›Commensalität‹ wiedergegeben wird, präzise zu definieren. Seine Wurzel ist ein Wort, das ›zusammen essen‹ bedeutet. Es wird auf alle nationalen, beziehungsweise Regierungsinstitutionen von Orgoreyn angewendet, vom Staat als Ganzheit über die dreiunddreißig Substaaten oder Distrikte, aus denen er besteht, bis zu den Sub-Substaaten, den Stadtgemeinden, den Kommunalfarmen, Minen, Fabriken und so weiter, aus denen wiederum jene bestehen. Als Adjektiv wird es für alle oben genannten Institutionen benutzt. In der Form ›die Commensalen‹ bezieht es sich gewöhnlich auf die dreiunddreißig Distriktdirektoren, die die Regierung, die Exekutive und Legislative, der Großcommensalität Orgoreyn bilden, kann sich aber auch auf die Bürger, das Volk selbst beziehen. In dieser fehlenden Unterscheidung zwischen der allgemeinen und der spezifischen Anwendung des Wortes, in dem Gebrauch desselben für sowohl das Ganze als auch dessen Teile, für den Staat und das Individuum, in dieser Ungenauigkeit liegt seine präziseste Bedeutung.
Endlich wurden meine Papiere wie auch meine Anwesenheit akzeptiert und ich erhielt zur vierten Stunde die erste Mahlzeit seit dem Frühstück — das Abendessen: kadik- Brei und kalte Brotapfelscheiben. Trotz seines großen Aufgebots von Beamten war Siuwensin ein kleiner, primitiver Ort, der schon tief im ländlichen Winterschlaf versunken war. Das Commensal-Passantenhaus war kürzer als sein Name. Der Speiseraum hatte nur einen Tisch, fünf Stühle und kein Feuer; das Essen wurde von der Garküche des Dorfes herübergebracht. Der zweite Raum war der Schlafsaal: sechs Betten, eine Menge Staub und etwas Meltau. Ich hatte ihn für mich allein. Da alle Bewohner von Siuwensin anscheinend gleich nach dem Essen zu Bett gegangen waren, tat ich das gleiche. Umgeben von dieser ganz eigenen ländlichen Stille, in der einem die Ohren rauschen, schlief ich ein. Ich schlief eine Stunde und erwachte in den Klauen eines Alptraums von Gewalt, Explosionen, Totschlag, Geschrei und Feuer.
Es war ein unglaublich scheußlicher Traum, von der Art, in denen man mit zahllosen anderen Leuten, die keine Gesichter haben, im Dunkeln eine unbekannte Straße entlangläuft, während hinter einem Häuser in Flammen aufgehen und Kinder schreien.
Ich fand mich auf freiem Feld wieder, einem Stoppelacker, unter einer schwarzen Hecke. Durch die Wolken am Himmel schimmerten der mattrote Halbmond und einige Sterne. Der Wind war bitter kalt. Neben mir ragte eine große Scheune oder ein Kornspeicher in die Nacht, und in der Ferne dahinter sah ich im Wind kleine Funkenbündel aufstieben.
Ich stand da, barfuß, im Hemd, ohne Kniehose, Hieb oder Mantel; aber ich hatte mein Bündel bei mir, und das enthielt nicht nur Reservekleidung, sondern darüber hinaus meine Rubine, mein Bargeld, meine Dokumente, meine Papiere und meinen Ansible. Auf Reisen benutze ich es stets als Kopfkissen. Anscheinend lasse ich es nicht einmal in meinen Träumen aus der Hand. Ich holte Schuhe, Hose und meinen pelzgefütterten Winterhieb heraus und zog mich in der kalten, dunklen Stille der Landschaft an, während eine halbe Meile hinter mir Siuwensin verbrannte. Dann machte ich mich auf die Suche nach einer Straße und fand auch eine, auf der außer mir noch andere Menschen zogen — Flüchtlinge wie ich, nur, daß sie wußten, wohin sie gingen. Ich folgte ihnen, denn ich hatte kein festes Ziel — nur den Wunsch, nicht nach Siuwensin zurückzukehren, das, wie ich aus ihren Bemerkungen während des Marsches schloß, Ziel eines Überfalls von Passerer auf der anderen Seite der Brücke gewesen war.
Sie hatten zugeschlagen, Feuer gelegt und sich wieder zurückgezogen; Widerstand hatte es nicht gegeben, es kam alles zu überraschend. Plötzlich kamen in der Dunkelheit Lichter auf uns zu, und als wir hastig an den Wegrand auswichen, jagte eine Landkarawane aus zwanzig Lastwagen mit Spitzengeschwindigkeit heran und rauschte unter zwanzigfachem Scheinwerfergleißen und Räderzischen an uns vorbei. Dann herrschten wieder Stille und Dunkelheit.
Nicht lange darauf erreichten wir ein Kommunalfarmzentrum, wo wir angehalten und ausgefragt wurden. Ich versuchte bei der Gruppe zu bleiben, der ich schon bis hierher gefolgt war, hatte aber kein Glück damit. Die übrigen waren allerdings auch nicht glücklicher daran, da sie ihre Personalpapiere nicht vorzeigen konnten. Mit ihnen zusammen wurde ich, der Ausländer ohne Paß, aus der Herde ausgesondert und für den Rest der Nacht in einer Vorratsscheune untergebracht, einem riesigen Halbkeller aus Stein ganz ohne Fenster und einer einzigen Tür, die von außen verriegelt wurde. Dann und wann wurde die Tür geöffnet, und ein mit einem gethenianischen Schallgewehr bewaffneter Farmpolizist stieß einen weiteren Flüchtling herein. Sobald die Tür geschlossen war, herrschte wieder totale Finsternis: kein Licht. Meine Augen, jeder Sicht beraubt, schossen Leuchtraketen und funkelnde Sterne durch die Schwärze. Die Luft war kalt und durchsetzt mit Staub und dem Geruch von Getreide. Niemand hatte eine Handlampe; die anderen waren ebenso plötzlich aus ihren Betten gescheucht worden wie ich. Ein paar waren sogar buchstäblich nackt und hatten erst unterwegs von Leidensgenossen Decken oder Kleidungsstücke bekommen. Sonst hatten sie nichts. Hätten sie etwas gehabt, dann wären das ihre Papiere gewesen. In Orgoreyn läuft man besser nackt als ohne Papiere herum.
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