Der Somer-Kemmer-Zyklus kommt uns entwürdigend vor, als Rückkehr zu dem Östruszyklus der niederen Säugetiere, als Unterwerfung des Menschen unter den Terror der Brunst. Wäre es möglich, daß die Experimentatoren sehen wollten, ob der Mensch ohne die ständige sexuelle Potenz intelligent und kulturfähig bleiben würde?
Andererseits verhindert die Begrenzung des Sexualtriebes auf einen diskontinuierlichen Zeitabschnitt und seine ›Gleichmachung‹ in der Androgynie weitgehend sowohl die Ausnutzung als auch die Frustration dieses Triebs. Die sexuelle Frustration gibt es natürlich auch hier (obgleich die Gesellschaft so weit wie möglich Maßnahmen dagegen trifft; solange die gesellschaftliche Einheit so groß ist, daß mehr als eine Person gleichzeitig im Kemmer sind, ist die sexuelle Erfüllung ziemlich gesichert), aber sie kann sich nicht stauen; sobald die Kemmerzeit vorüber ist, ist es auch mit der Frustration vorbei. Auf diese Weise wird ihnen viel Kummer und Leid erspart. Aber was bleibt in der Somerzeit? Was haben sie zu sublimieren? Was kann eine Gesellschaft von Eunuchen zustande bringen? — Falsch! Denn sie sind auch in der Somerzeit keine Eunuchen, sondern eher mit Voradoleszenten zu vergleichen: nicht kastriert, sondern latent.
Eine weitere Mutmaßung über den Zweck dieses hypothetischen Experiments: Ausrottung des Krieges. Möglicherweise setzten die alten Hainaner voraus, daß kontinuierliche sexuelle Kapazität und organisierte soziale Aggression, die beide für kein anderes Säugetier als für den Menschen typisch sind, im Ursache-Wirkungsverhältnis zueinander stehen. Oder sie hielten, wie Tumass Song Angot, den Krieg für eine rein maskuline Ersatzhandlung, für eine ungeheure Vergewaltigung, und eliminierten daher in ihrem Experiment die Maskulinität, die vergewaltigt, und die Femininität, die vergewaltigt wird. Welches die wirklichen Gründe waren, wissen wir nicht. Tatsache bleibt, daß die Gethenianer zwar den Konkurrenzkampf kennen (was durch die verzweigten Sozialkanäle zu beweisen ist, die für den Wettkampf um Prestige usw. angelegt sind), aber auf keinen Fall sehr aggressiv zu sein scheinen; wenigstens haben sie offenbar noch nie einen Zustand gehabt, den man als Kriegszustand bezeichnen könnte. Zu zweit oder dritt töten sie sich gegenseitig oft und schnell; in Gruppen von zehn oder zwanzig äußerst selten, und zu Hunderten und Tausenden nie. Warum?
Vielleicht stellt sich heraus, daß das mit ihrer Androgynenpsychologie überhaupt nichts zu tun hat. Es gibt schließlich nicht sehr viele von ihnen. Und außerdem ist das das Klima. Das Wetter auf Winter ist so unbarmherzig, bewegt sich, sogar für die Gethenianer mit all ihrer Anpassungsfähigkeit an die ungeheure Kälte, so nahe an der Grenze des Erträglichen, daß sie vielleicht ihren ganzen Kampfgeist brauchen, um der Kälte standzuhalten. Die Völker an der Grenze des Lebensraums, die Rassen, die sich gerade über Wasser halten können, sind selten kriegerisch, sie brauchen ihre Energien für die Sicherung ihrer nackten Existenz. Und letztlich ist der beherrschende Faktor des gethenianischen Lebens weder der Sex noch eine andere menschliche Eigenschaft, sondern ihre Umgebung, ihre eisige, kalte Welt. In ihr hat der Mensch einen noch grausameren Feind als sich selbst.
Ich bin eine Frau vom friedlichen Chiffewar und kein Experte für die Faszination der Gewalttätigkeit und die Ursachen von Aggressionen. Darüber muß sich ein anderer den Kopf zerbrechen. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß jemand noch viel Wert auf Sieg und Ruhm legen wird, wenn er einen Winter auf Winter verbracht und in das Gesicht des Eises geblickt hat.
ACHTES KAPITEL
Ein anderer Weg nach Orgoreyn
Den Sommer verbrachte ich mehr wie ein Investigator denn als Mobiler: Ich wanderte durch das karhidische Land, von Ort zu Ort, von Domäne zu Domäne, ich beobachtete und ich lauschte — Dinge, die ein Mobiler in der ersten Zeit nicht tun kann, weil er dann noch ein Wunder und eine Monstrosität ist und ständig zu besichtigen und auftrittsbereit sein muß. Ich erklärte meinen Gastgebern in diesen ländlichen Herden und Dörfern, wer ich war; die meisten von ihnen hatten bereits im Radio von mir gehört und so eine annähernde Vorstellung von mir. Neugierig waren sie allesamt, einige mehr, einige weniger. Nur wenige fürchteten sich vor mir, verhielten sich ungastlich oder zeigten gar Abscheu. Der Feind ist in Karhide nicht der Fremde, der Eindringling. Der Fremde, der Unbekannte, der kommt, ist ein Gast. Der Feind, das ist immer der Nachbar.
Während des Monates Kus wohnte ich an der Ostküste in einem Clanherd namens Gorinhering, einer Haus-Dorf-Fort- Form auf einem Berg hoch über dem ewigen Nebel des Hodomin-Ozeans. Dort lebten ungefähr fünfhundert Menschen. Viertausend Jahre zuvor hätte ich ihre Vorfahren bereits am selben Platz, im selben Haus gefunden. Während dieser vier Jahrtausende wurde der Elektromotor entwickelt, Radios, mechanische Webstühle, mechanische Fahrzeuge, Landmaschinen und ähnliche Dinge kamen in Gebrauch, und so begann allmählich, ohne industrielle Revolution, ohne überhaupt eine Revolution, das Maschinenzeitalter. In dreißig Jahrhunderten hat Winter nicht einmal das erreicht, was Terra ehedem in drei Jahrzehnten erreichte. Dafür hat Winter aber auch nicht den Preis zahlen müssen, den Terra bezahlt hat.
Winter ist eine feindselige Welt; ihre Strafe für jeden Fehler erfolgt unerbittlich und prompt: Tod durch Erfrieren oder Tod durch Verhungern. Kein Spielraum, kein Aufschub. Ein einzelner Mensch kann auf sein Glück setzen, eine Gesellschaft nicht; und kulturelle Veränderungen erhöhen, genau wie zufällige Mutationen, das Risiko. Deswegen haben sie ihr Tempo gezügelt. An jedem x-beliebigen Punkt ihrer Geschichte könnte ein oberflächlichler Betrachter sagen, daß jeder technologische Fortschritt, jegliche Entwicklung aufgehört hat. Aber sie haben niemals aufgehört. Was ist der Unterschied zwischen dem Sturzbach und dem Gletscher? Beide gelangen an ihr Ziel.
Ich unterhielt mich häufig und lange mit den Alten in Gorinhering, ebensoviel aber mit den Kindern. Hier hatte ich zum erstenmal Gelegenheit, Gethenianerkinder intensiver zu beobachten, denn in Erhenrang sind sie samt und sonders in privaten oder öffentlichen Herden und Schulen untergebracht. Ein Viertel bis ein Drittel der erwachsenen Stadtbevölkerung ist vollauf mit der Aufzucht und Erziehung der Kinder beschäftigt. Hier dagegen sorgte der Clan selbst dafür; alle und jeder waren verantwortlich für sie. Sie waren ein recht wilder Haufen, der ungezügelt über die nebelverhangenen Hügel und Strände tobte. Wenn es mir gelang, eines von ihnen lange genug festzuhalten, um ernsthaft mit ihm zu sprechen, konnte ich feststellen, daß sie scheu, stolz und überaus vertrauensselig waren.
Der Elterninstinkt variiert auf Gethen genauso stark wie anderswo. Man kann unmöglich verallgemeinern. Nie habe ich gesehen, daß ein Karhider ein Kind schlug, ein einziges mal habe ich erlebt, daß einer wütend ein Kind anschrie. Ihre Liebe zu den Kindern ist tief, zärtlich und beinahe ganz und gar selbstlos. Möglicherweise ist es allein diese Selbstlosigkeit, in der sie sich von dem unterscheidet, was wir als ›mütterlichen‹ Instinkt bezeichnen. Ich selbst vermute, daß der Unterschied zwischen dem mütterlichen und dem väterlichen Instinkt kaum erwähnenswert ist; der Elterninstinkt, der Wunsch, zu beschützen und zu fördern, ist ein Charakteristikum, das nicht an das Geschlecht gebunden ist…
Anfang Hakanna hörten wir in Gorinhering in den von statischem Rauschen untermalten Palastbulletins, daß König Argaven die Geburt eines Erben angekündigt habe. Nicht eines weiteren Kemmering-Sohnes, deren er bereits sieben hatte, sondern eines leiblichen Erben, eines König-Sohnes. Der König war schwanger.
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