Mishnory war sauberer, größer und heller als Erhenrang: es war weiträumig, offen und eindrucksvoll. Große Gebäude aus gelblich-weißem Stein beherrschten das Stadtbild, schlichte, stattliche Häuserblocks, alle nach einem Schema errichtet, die nicht nur die Büros und Amtsstellen der Commensalregierung beherbergten, sondern auch die Haupttempel des Yomeshkults, der von der Commensalität gefördert wird. Es gab weder Unordnung noch Verwirrung, und auch nicht das Gefühl, überall unter dem Schatten von etwas Hohem, Düsterem zu stehen, wie ich es in Erhenrang kennengelernt hatte; hier war alles schlicht aber großzügig angelegt. Ich fühlte mich, als wäre ich aus einem dunklen Zeitalter gekommen, und wünschte, nicht ganze zwei Jahre in Karhide vertan zu haben. Dieses Land hier sah wirklich aus, als wäre es bereit, ins Zeitalter der Ökumene einzutreten.
Ich fuhr eine Weile in der Stadt herum, gab dann den Wagen im entsprechenden Regionalbüro ab und ging zu Fuß zur Residenz des Ersten Commensal-Distriktkommissars für Einreise-Straßen und -Häfen. Ich habe nie genau feststellen können, ob es sich bei dieser Einladung um eine Bitte oder einen höflich formulierten Befehl handelte. Nusuth. Ich war nach Orgoreyn gekommen, um für die Ökumene zu sprechen, und konnte damit genausogut hier wie anderswo beginnen.
Meine Vorstellung von Orgota-Phlegma und -Zurückhaltung wurde von Kommissar Shusgis gründlich zerstört: lächelnd und mich laut begrüßend kam er auf mich zu, ergriff mit einer Geste, die die Karhider nur in Augenblicken äußerster persönlicher Emotion anwenden würden, meine beiden Hände, schüttelte sie so heftig, als wollte er mich wie einen Motor in Gang bringen, und brüllte einen Willkommensgruß für den Botschafter der Ökumene der bekannten Welten in Gethen.
Das war eine Überraschung für mich, denn nicht einer der zwölf oder vierzehn Inspektoren, die meine Papiere studiert haben mußten, hatte sich anmerken lassen, ob ihm mein Name oder die Bezeichnungen Gesandter oder Ökumene bekannt waren, während sämtliche Karhider, die ich kennengelernt hatte, wenigstens vage damit vertraut gewesen waren. Daraus hatte ich geschlossen, daß Karhide eine Übernahme der Sendungen, die mich betrafen, durch Orgota-Stationen erfolgreich verhindert und alles getan hatte, um aus meiner Anwesenheit ein nationales Geheimnis zu machen.
»Nicht Botschafter, Mr. Shusgis. Nur Gesandter.«
»Dann eben zukünftiger Botschafter. Jawohl, bei Meshe!«Shusgis, ein kräftiger, stets freudestrahlender Mann, maß mich von Kopf bis Fuß und lachte abermals.»Sie sind ganz anders, als ich erwartet hatte, Mr. Ai! Ganz und gar anders. So groß wie ein Laternenpfahl, habe ich gehört, so dünn wie eine Schlittenkufe, pechschwarz und schlitzäugig. Einen Eisoger hatte ich erwartet, ein Ungeheuer! Nichts davon stimmt. Nur, daß Sie dunkler sind als die meisten von uns.«
»Erdfarben«, erklärte ich.
»Und Sie waren in der Nacht des Überfalls in Siuwensin? Bei Meshes Brüsten! In was für einer Welt wir doch leben! Sie hätten beim Übergang über die Ey-Brücke getötet werden können, und das, nachdem sie den ganzen Weltraum durchquert haben, um hierherzukommen. Na ja, nun sind Sie ja glücklich angelangt. Und so viele Menschen möchten Sie sehen, und hören, und sie endlich in Orgoreyn willkommen heißen!«
Er brachte mich auf der Stelle, keine Widerrede, in einer Wohnung seines Hauses unter. Als hoher Beamter und reicher Mann lebte er in einem Stil, für den in Karhide kein Äquivalent existiert, nicht einmal unter den Herren der großen Domänen. Shusgis’-Haus war eine ganze Insel, in der zwar über hundert Angestellte, Bedienstete, Büroarbeiter, technische Berater und so weiter wohnten, aber kein einziger Verwandter, keine Familienangehörigen. In Orgoreyn ist das System der erweiterten Familienclans, der Herde und Domänen innerhalb der Commensalstruktur nur noch vage erkennbar und schon von mehreren hundert Jahren nationalisierte worden. Kein Kind, das über ein Jahr alt ist, lebt mit dem einen oder gar mit beiden Elternteilen zusammen; sie werden samt und sonders in den Commensal-Herden großgezogen. Erbliche Titel gibt es nicht. Private Testamente sind ungesetzlich: Wer stirbt, hinterläßt sein Vermögen dem Staat. Alle haben den gleichen Start. Doch offensichtlich kommen sie nicht alle gleich schnell voran. Shusgis war reich, und sehr großzügig mit seinem Reichtum. Mein Zimmer war mit einem Luxus ausgestattet, den ich auf Winter nicht für möglich gehalten hätte. So gab es zum Beispiel eine Dusche. Es gab einen elektrischen Heizofen und einen Kamin, in dem ein Höllenfeuer prasselte, Shusgis lachte.»Man hat mir gesagt, mach’ es dem Gesandten schön warm, er kommt von einer heißen Welt, von einem wahren Ofen von Welt, und kann unsere Kälte nicht ertragen. Behandle ihn, als wäre er schwanger, tu’ Pelze auf sein Bett und Heizöfen in sein Zimmer, gib ihm warmes Waschwasser und halte seine Fenster geschlossen. Ist es richtig so? Ist es Ihnen bequem genug? Bitte, sagen Sie mir, was Sie sonst noch gern hätten!«
Bequem! In Karhide hatte man mich nie, bei keiner einzigen Gelegenheit danach gefragt, ob es mir bequem genug sei.
»Mr. Shusgis«, sagte ich herzlich,»ich fühle mich jetzt schon hier wie zu Hause.«
Er war erst zufrieden, als er mir noch eine pesthry- Pelzdecke aufs Bett gelegt und noch mehr Scheite in den Kamin geschoben hatte.»Ich weiß, wie das ist«, stellte er fest.»Als ich schwanger war, konnte ich es nicht warm genug haben. Ständig waren meine Füße wie Eis, und den ganzen Winter lang hockte ich vor dem Feuer. Das ist natürlich schon lange her, aber ich erinnere mich noch gut daran.«Die Gethenianer bekommen ihre Kinder meist, wenn sie noch jung sind; sobald sie die fünfundzwanzig oder so hinter sich haben, benutzen sie empfängnisverhütende Mittel, und um die vierzig herum werden sie in der weiblichen Phase unfruchtbar. Shusgis war in den Fünfzigern, daher sein ›das ist natürlich schon lange her‹, und es fiel mir schwer, mir ihn als junge Mutter vorzustellen. Er war ein harter, gerissener Politiker, dessen Liebenswürdigkeit ausschließlich dem eigenen Interesse diente, und dem Interesse einzig der eigenen Person galt. Dieser Typ ist panhuman. Ich war ihm auf der Erde begegnet, auf Hain und auf Ollul. Ich bin überzeugt, daß ich ihm auch in der Hölle begegnen werde.
»Sie sind über mein Aussehen und meine Gewohnheiten ausgezeichnet informiert, Mr. Shusgis. Ich fühle mich sehr geschmeichelt; ich hätte nicht gedacht, daß mir mein Ruf vorausgeeilt ist.«
Er verstand, was ich damit sagen wollte.»Nein«, antwortete er,»man hätte Sie in Erhenrang ebensogut unter eine Schneewehe begraben können, wie? Aber man hat Sie gehen lassen; man hat Sie gehen lassen, und daran haben wir erkannt, daß Sie nicht einfach einer von diesen karhidischen Wahnsinnigen sind, sondern echt.«
»Ich glaube, ich kann Ihnen nicht recht folgen.«
»Nun, Argaven und seine Leute hatten Angst vor Ihnen, Mr. Ai — Angst vor Ihnen, und waren froh, als Sie ihrem Land den Rücken kehrten. Sie fürchteten, daß Vergeltung geübt würde, wenn Sie mißhandelt oder zum Schweigen gebracht würden. Ein Überfall aus dem Weltraum. Deswegen wagten sie es nicht, Hand an Sie zu legen. Deswegen versuchten sie, alles über Sie geheimzuhalten. Weil sie vor Ihnen und dem, was Sie Gethen bringen, Angst hatten.«
Das war übertrieben. Man hatte mich in den karhidischen Nachrichten keineswegs totgeschwiegen, wenigstens nicht, solange Estraven noch selbst regierte. Aber ich hatte bereits den Eindruck, daß in Orgoreyn alle Nachrichten über mich aus demselben Grund nicht weit herumkamen, und Shusgis bestätigte meinen Verdacht.
»Dann haben Sie also keine Angst vor dem, was ich Gethen bringe?«
»Nein, wir nicht!«
»Ich manchmal schon.«
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