Mary nahm Montoya die Manschette ab und gab ihr den letzten Formularsatz. »Mr. Latimer? Sie sind der nächste.«
Latimer stand auf, die Formulare in der Hand. Er sah sie mit konfusem Ausdruck an, dann legte er sie auf den Stuhl, wo er gesessen hatte, und kam herüber zu Mary. Unterwegs machte er kehrt und ging zurück, um Marys Einkaufstasche zu holen. »Die haben Sie bei uns vergessen«, sagte er und hielt sie Mary hin.
»Oh, vielen Dank«, sagte sie. »Bitte stellen Sie sie neben den Tisch. Meine Handschuhe sind steril.«
Latimer tat wie geheißen und lehnte die Tasche gegen ein Tischbein. Das Ende des Schals hing ein Stück heraus, und er steckte es sorgsam wieder hinein.
»Ich hatte völlig darauf vergessen«, sagte Mary. »In all der Aufregung…« Sie schlug die behandschuhte Hand vor den Mund. »Ach du lieber Gott! Colin! Ich hatte ihn ganz vergessen. Wie spät ist es?«
»Fünf Uhr acht«, sagte Montoya, ohne auf ihre Digitaluhr zu schauen.
»Er sollte schon um drei ankommen«, sagte sie, stand auf und fummelte in nervöser Geistesabwesenheit mit den Fläschchen der Blutproben.
»Vielleicht ist er zu Ihrer Wohnung gegangen, als Sie nicht da waren«, sagte Dunworthy.
Sie schüttelte den Kopf. »Er war noch nie in Oxford. Darum hatte ich ihm gesagt, daß ich ihn am Bahnhof abholen würde. Erst jetzt ist es mir wieder eingefallen.«
»Nun, dann wird er immer noch dort sein und warten«, sagte Dunworthy. »Soll ich gehen und ihn holen?«
»Nein«, sagte sie. »Sie sind eine Kontaktperson.«
»Dann werde ich den Bahnhof anrufen. Sie können ihm sagen, daß er von dort ein Taxi nehmen soll. In welcher Station wollten Sie ihn abholen? Cornmarket?«
»Ja, Cornmarket.«
Dunworthy rief die Auskunft an, kam beim dritten Versuch durch, erhielt die Nummer und rief die Station an. Die Leitung war besetzt. Er drückte auf die Taste und wählte noch einmal.
»Ist Colin Ihr Enkel?« sagte Montoya. Sie hatte ihre Formulare beiseite gelegt. Die anderen schienen dieser neuesten Entwicklung keine Beachtung zu schenken. Gilchrist füllte mit finsterer Miene seine Formulare aus, als handle es sich um eine weitere Dokumentation von Nachlässigkeit und Unfähigkeit. Latimer saß geduldig mit aufgekrempeltem Ärmel neben dem Tablett. Die Ärztin lag noch immer mit geschlossenen Augen im Sessel.
»Er ist mein Großneffe«, sagte Mary. »Er sollte von London heraufkommen, um Weihnachten mit mir zu verbringen.«
»Um welche Zeit wurde Quarantäne verhängt?«
»Zehn nach drei«, sagte Mary.
Dunworthy hielt zum Zeichen, daß er durchgekommen war, die Hand in die Höhe. »Ist dort die U-Bahn-Station Cornmarket?« sagte er. Anscheinend war es so. Er konnte die Schalter und eine Menschenmenge hinter einem nervös aussehenden Stationsvorsteher sehen. »Ich rufe wegen eines Jungen an, der um drei Uhr aus London gekommen ist. Er ist zwölf.« Dunworthy hielt die Hand über die Sprechmuschel und fragte Mary: »Wie sieht er aus?«
»Er ist blond und hat blaue Augen. Er ist groß für sein Alter.«
»Groß und blond«, sagte Dunworthy mit erhobener Stimme, denn der Lärm der Menschenmenge war vernehmlich. »Sein Name ist Colin…«
»Templer«, sagte Mary. »Deirdre sagte, er würde um eins von Marble Arch losfahren.«
»Colin Templer. Haben Sie ihn gesehen?«
»Was, zum Teufel, soll das heißen, ob ich ihn gesehen habe?« rief der Stationsvorsteher. »Ich habe hier fünfhundert Leute, und Sie wollen wissen, ob ich einen kleinen Jungen gesehen habe. Sehen Sie sich dieses Durcheinander an.«
Das Bild zeigte plötzlich eine wogende Menschenmenge. Dunworthy spähte in die Gesichter, versuchte einen großen Zwölfjährigen mit blondem Haar und blauen Augen auszumachen, aber gleich darauf kam wieder der Stationsvorsteher ins Bild.
»Es ist eine Quarantäne verhängt worden«, rief er durch den Lärm der Menge, der von Minute zu Minute zuzunehmen schien, »und ich habe die Station voller Menschen, die wissen wollen, warum die Züge nicht mehr fahren und warum ich nichts dagegen unternehme. Ich habe die größte Mühe, sie daran zu hindern, daß sie mir die ganze Station auseinandernehmen. Ich kann mich nicht um einen Jungen kümmern.«
»Sein Name ist Colin Templer«, rief Dunworthy. »Seine Großtante sollte ihn abholen.«
»Warum hat sie es dann nicht getan und mir ein Problem erspart? Ich habe hier eine Menge aufgebrachter Leute, die wissen wollen, wie lange die Quarantäne dauern wird und warum ich nichts unternehme…« Plötzlich war die Verbindung unterbrochen. Dunworthy fragte sich, ob er aufgelegt oder ob jemand ihm das Telefon entrissen hatte.
»Hat der Stationsvorsteher ihn gesehen?« fragte Mary.
»Nein. Sie werden jemand hinschicken müssen.«
»Ja, gut. Ich werde jemand vom Personal schicken«, sagte sie und lief hinaus.
»Die Quarantäne wurde um zehn Minuten nach drei verhängt, und er sollte um drei ankommen«, sagte Montoya. »Vielleicht gab es eine Verspätung.«
Daran hatte Dunworthy nicht gedacht. Wenn die Quarantäne vor der Ankunft des Zuges in Oxford verhängt worden war, würde er in der nächsten Station angehalten worden sein, und man hätte die Passagiere umgeleitet oder nach London zurückgeschickt. »Rufen Sie noch mal die Station an«, sagte er und reichte ihr das Telefon. Er zeigte ihr die Nummer. »Sagen Sie, der Zug habe Marble Arch um eins verlassen. Ich werde Mary sagen, daß sie ihre Nichte anrufen soll. Vielleicht ist Colin schon wieder zu Hause.«
Er ging hinaus in den Korridor, um die Schwester nach Marys Verbleib zu fragen, aber sie war nicht da. Mary mußte sie zum Bahnhof geschickt haben.
Der Korridor lag menschenleer. Am anderen Ende war die Telefonzelle, die er vorher benutzt hatte; er eilte hin und wählte die Nummer vom Balliol College. Es war zwar nicht wahrscheinlich, aber doch möglich, daß Colin sich durchgefragt hatte und Marys Wohnung gefunden hatte. Finch konnte ihn dort suchen und dann, wenn er Colin nicht antraf, zur Station hinuntergehen. Wahrscheinlich war mehr als eine Person nötig, um Colin in diesem Gewühl zu finden.
»Hi«, sagte eine Frauenstimme.
Dunworthy blickte stirnrunzelnd auf die Nummer, aber er hatte sich nicht verwählt. »Ich versuche Mr. Finch vom Balliol College zu erreichen.«
»Der ist gerade nicht hier«, sagte die Frau, offenbar eine Amerikanerin. »Ich bin Mrs. Taylor. Kann ich etwas ausrichten?«
Es mußte eine der Schellenläuterinnen sein. Sie war jünger, als er erwartet hatte, nicht weit über dreißig, und sah zierlich aus. »Würden Sie ihm bitte sagen, daß er Mr. Dunworthy in der Klinik anrufen soll, sobald er zurückkehrt?«
»Mr. Dunworthy.« Sie notierte es und blickte scharf auf. »Mr. Dunworthy«, sagte sie in völlig verändertem Tonfall, »sind Sie dafür verantwortlich, daß wir hier gefangengehalten werden?«
Darauf gab es keine gute Antwort. Er hätte nie im Studentenheim anrufen sollen.
»Die Gesundheitsbehörden haben wegen des Auftretens einer nicht identifizierten Krankheit eine einstweilige Quarantäne verhängt. Es ist eine Sicherheitsmaßnahme. Ich bedaure, daß Ihnen dadurch Ungelegenheiten entstanden sind. Ich habe meinen Sekretär angewiesen, Ihnen den Aufenthalt so bequem wie möglich zu machen, und wenn es noch etwas gibt, das ich für Sie tun kann…«
»Tun? Tun? Sie können uns nach Ely bringen, das können Sie tun! Meine Schellenläuterinnen sollten um acht Uhr ein Konzert vor der Kathedrale geben, und morgen müssen wir in Norwich sein. Wir veranstalten dort ein Weihnachtsläuten am Heiligen Abend.«
Er fühlte sich nicht berufen, ihr zu erklären, daß sie morgen nicht in Norwich sein würden. »Ich bin sicher, daß Ely bereits über die Situation unterrichtet ist, aber ich werde gern die Kathedrale anrufen und erklären…«
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