»Das ist ja, als würdest du fragen: Wie sieht so ein Hochstapler eigentlich aus?« sagte Arctor. »Ich hab’ mich mal mit einem großen Hasch-Dealer unterhalten, der hopsgenommen worden war, als er gerade zehn Pfund Hasch in seiner Tasche hatte. Ich hab’ ihn gefragt, wie der Rauschgift-Agent, der ihn hatte auffliegen lassen, denn aussah. Ihr wißt schon, der – na, wie sagt man doch gleich? – der Lockvogel, der auftrat und sich als Freund eines Freundes ausgab und ihn dazu brachte, ihm etwas Hasch zu verkaufen.«
»Wahrscheinlich«, sagte Barris und wickelte weiter Bindfaden auf, »ganz genau so wie wir.«
»Viel echter als wir«, sagte Arctor. »Dieser Macker, dieser Hasch-Dealer, meine ich – er war übrigens schon verknackt worden und mußte am nächsten Tag in den Kahn –, der erzählte mir: ›Sie haben längere Haare als wir.‹ Und die Lehre, die man daraus ziehen kann, ist wohl: Halte dich bloß von Typen fern, die so aussehen wie wir.«
»Es gibt auch weibliche Rauschgift-Agenten«, sagte Barris.
»Ich möchte gerne mal einen Rauschgift-Agenten kennenlernen«, sagte Arctor. »Ich meine, bewußt. Einen, bei dem ich mit Bestimmtheit weiß, daß es einer ist.«
»Tja«, sagte Barris, »mit Bestimmtheit würdest du das erst wissen, wenn er dir die Handschellen anlegt. Falls es mal so weit kommt.«
Arctor sagte: »Was mich interessieren würde … haben Rauschgift-Agenten eigentlich Freunde? Wie sieht ihr gesellschaftliches Leben aus? Wissen ihre Ehefrauen Bescheid?«
»Rauschgift-Agenten haben keine Ehefrauen«, sagte Luckman. »Sie leben in Höhlen und spähen unter geparkten Wagen hinter dir her, wenn du vorübergehst. Wie Trolle.«
»Und was essen sie?« sagte Arctor.
»Menschen«, sagte Barris.
»Wie kann ein Typ das bloß machen?« sagte Arctor. »Sich als Rauschgift-Agent ausgeben?«
»Was?« sagten Barris und Luckman wie aus einem Munde.
»Scheiße, ich bin heute echt ausgeklinkt«, sagte Arctor mit einem schiefen Grinsen. »›Sich als Rauschgift-Agent ausgeben‹ – wow.« Er schüttelte in komischer Verzweiflung den Kopf.
Luckman starrte ihn an. »SICH ALS RAUSCHGIFT-AGENT AUSGEBEN? SICH ALS RAUSCHGIFT-AGENT AUSGEBEN?«
»Ich glaub’, mein Gehirn ist heute eine einzige Motsche«, sagte Arctor. »Ich hau’ mich besser in die Falle. «
Vor den Schirmen unterbrach Fred den Bandvorlauf; alle Bildwürfel gefroren, und der Ton erstarb.
»Machste ‘ne Pause, Fred?« rief einer der anderen Jedermann-Anzüge zu ihm hinüber.
»Yeah«, sagte Fred. »Ich bin müde. Dieser Scheiß geht einem nach ‘ner Weile ganz schön auf den Geist.« Er stand auf und zündete sich eine Zigarette an. »Ich kapier’ schon nicht mehr die Hälfte von dem, was sie sagen, so müde bin ich. Und ich hab’s satt«, fügte er hinzu, »ihnen zuzuhören.«
»Wenn man selbst dabeisitzt«, sagte ein Jedermann-Anzug, »ist es längst nicht so schlimm; richtig? Ich nehm’ doch an, daß du dabeigesessen hast – daß du einer aus dieser Gruppe bist, natürlich in einer Tarnidentität. Stimmt’s?«
»Ich würde nie mit Spinnern wie denen da rumhängen«, sagte Fred. »Die reden doch nur immer und immer wieder das gleiche, wie senile alte Opas. Warum machen sie das eigentlich, dauernd nur rumsitzen und Scheiß labern?«
»Warum machen wir das, was wir machen? Im Grunde genommen ist das doch auch immer wieder das gleiche, wenn man’s sich mal genau anschaut.«
»Aber wir müssen das machen; das ist unser Job. Wir können uns das nicht aussuchen.«
»Wie senile alte Opas«, warf ein Jedermann-Anzug ein. »Die können sich das auch nicht aussuchen. Die sind einfach so.«
Sich als Rauschgift-Agent ausgeben, dachte Fred. Was bedeutet das? Keiner weiß das …
So tun, überlegte er, als sei man ein Hochstapler. Einer, der unter parkenden Wagen lebt und Dreck frißt. Nicht ein weltberühmter Chirurg oder Romancier oder Politiker; jemand, um den sich keine Fernsehanstalt reißen würde. Das ist kein Leben, das irgend jemand, der noch bei Verstand ist …
Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt,
Den, wie er sich im Staube nährend lebt,
Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt. [9] Anm. d. Übers.: Im Gegensatz zu Kapitel XI, wo diese drei Gedichtzeilen im Original in Deutsch zitiert werden, steht hier im Original eine englische Übersetzung.
Ja, das trifft es ganz genau, dachte er. Dieses Gedicht. Luckman muß es mir vorgelesen haben, oder vielleicht haben wir es mal in der Schule durchgenommen. Lustig, was da manchmal aus den Tiefen der Erinnerung wieder an die Oberfläche kommt. Was das Gehirn so alles speichert.
Arctors verdrehte Worte wollten ihm nicht aus dem Kopf gehen, obwohl er doch das Band schon längst gestoppt hatte. Ich wünschte mir, ich könnte sie vergessen, dachte er. Ich wünschte mir, ich könnte – wenigstens für eine Zeitlang – ihn vergessen.
»Irgendwie krieg’ ich das Gefühl«, sagte Fred, »daß ich manchmal weiß, was sie im nächsten Augenblick sagen werden. Noch bevor sie es aussprechen. Ihre genauen Worte.«
»Das nennt man Déjà vu «, nickte einer der Jedermann-Anzüge. »Paß mal auf, ich will dir mal ‘n paar gute Tips geben. Spul das Band immer über einen längeren Aufnahmezeitraum vor, also nicht nur eine Stunde sondern, sagen wir mal, sechs Stunden. Wenn sich da nichts Bemerkenswertes ereignet, dann spulst du es zurück, bis du auf etwas stößt. Rückwärts, verstehst du, statt vorwärts. Auf diese Weise kommst du nicht in ihren Rhythmus. Du schwimmst sozusagen gegen den Strom. Sechs oder sogar acht Stunden vorwärts, dann in großen Sprüngen zurück … Du wirst den Dreh bald raushaben und ein Gespür dafür kriegen, ob du nun Kilometer um Kilometer von diesem Nichts vor dir hast oder ob irgendwo was Verwertbares darunter ist.«
»Und du wirst eigentlich gar nicht wirklich zuhören«, sagte der andere Jedermann-Anzug. »Bis du wirklich auf etwas stößt. Wie eine Mutter, wenn sie schläft – nichts macht sie wach, nicht einmal ein vorbeifahrender Lastwagen, bis sie ihr Baby weinen hört. Das weckt sie – das erregt ihre Aufmerksamkeit. Ganz egal, wie schwach das Weinen auch immer sein mag. Das Unterbewußtsein arbeitet selektiv, wenn es erst einmal gelernt hat, auf was es achten muß.«
»Ich weiß«, sagte Fred. »Ich habe selbst zwei Kinder.«
»Jungen?«
»Mädchen«, sagte er. »Zwei kleine Mädchen.«
»Ist ja suuuuper«, sagte einer der Jedermann-Anzüge. »Ich hab’ auch ein Mädchen, ein Jahr alt.«
»Bitte keine Namen«, sagte der andere Jedermann-Anzug, und sie alle lachten. Ein bißchen.
Jedenfalls, sagte Fred zu sich selbst, gibt es jetzt endlich etwas, das sich aus dem ganzen Zeug auf den Bändern auszusondern und weiterzuleiten lohnt. Diese kryptische Äußerung darüber, »sich als ein Rauschgift-Agent auszugeben«. Die anderen Männer bei Arctor im Haus – auch die hat diese Äußerung überrascht. Wenn ich morgen um drei rübergehe, werde ich eine Kopie davon mitnehmen – ein Band allein mit dem Ton müßte reichen – und das mal mit Hank durchdiskutieren. Das und alles andere, was ich bis morgen noch finde.
Aber selbst wenn das alles ist, was ich Hank vorlegen kann, dachte er, so ist es immerhin doch ein Anfang. Es zeigt, daß diese Rund-um-die-Uhr-Überwachung Arctors keine Verschwendung ist.
Es zeigt, dachte er, daß ich recht hatte.
Diese Bemerkung war ein Ausrutscher. Arctor hat sich verplappert.
Was diese Äußerung allerdings bedeuten sollte, wußte er bisher noch nicht.
Aber das, sagte er zu sich selbst, werden wir schon noch herausfinden. Wir werden so lange an Bob Arctor dranbleiben, bis er reif ist. Auch wenn es noch so unerquicklich ist, ihm und seinen Kumpels die ganze Zeit über zusehen und zuhören zu müssen. Diese Kumpels von ihm, dachte er, sind genauso schlimm wie er selbst. Wie habe ich es bloß jemals aushalten können, die ganze Zeit über mit denen allen in diesem Haus rumzuhängen? Was für eine Art, sein Leben zu verbringen; was für ein, wie der andere Beamte es genannt hatte, endloses Nichts.
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