Vielleicht, spekulierte er, versucht Barris ja sogar bloß, Arctors zunehmende Fehlleistungen wieder auszubügeln. Arctor hält sein Fahrzeug nicht länger so gut in Schuß, wie er das früher mal getan hat, er stellt faule Schecks aus, und das alles nicht aus böser Absicht, sondern weil sein gottverdammtes Gehirn durch den ganzen Stoff zermatscht ist. Aber das macht die Angelegenheit eher nur noch schlimmer. Barris tut, was er kann; das kann durchaus sein. Nur ist auch sein Gehirn zermatscht. Alle ihre Gehirne sind…
Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt.
Den, wie er sich im Staube nährend lebt,
Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt. [6] Anm. d. Übers.: Deutsch im Original.
… zermatscht und beeinflussen sich gegenseitig auf zermatschte Art und Weise. Die Zermatschten führen die Zermatschten. Und zwar geradewegs ins Verderben.
Vielleicht, mutmaßte er, hat Arctor selbst die ganzen Drähte durchgeknipst und verbogen und die ganzen Kurzschlüsse in seinem Cephskop verursacht. Mitten in der Nacht. Aber aus welchen Gründen?
Eben das würde die Kardinalsfrage sein: Warum? Aber bei zermatschten Gehirnen war alles möglich, alles denkbar, selbst Motive, die so verdreht wie die Drähte waren. Während seiner Tätigkeit als Geheimer Rauschgift-Agent hatte er das selbst gesehen, viele, viele Male. Diese Tragödie war ihm nicht neu; das alles war nur ein Routinefall mehr in den Computerspeichern. Das hier war das Stadium, das der Reise in die Staatliche Nervenklinik unmittelbar vorausging. Wie bei Jerry Fabin.
Alle diese Typen bewegten sich auf demselben Spielfeld; sie standen jetzt nur auf verschiedenen Feldern in unterschiedlicher Entfernung vom Ziel und würden es zu verschiedenen Zeiten erreichen. Aber am Ende würden sie doch alle an diesem Ziel ankommen: in der Staatlichen Nervenklinik.
Das war in ihr Nervengewebe einprogrammiert. Oder in das, was immer davon übriggeblieben war. Nichts konnte dem noch Einhalt gebieten oder es verhindern. Jetzt nicht mehr.
Und, so glaubte er nun zu wissen, besonders nicht mehr für Bob Arctor. Diese langsam in ihm aufdämmernde Erkenntnis gewann er rein intuitiv; sie war nicht von dem abhängig, was Barris getan hat. Es war eine neue, eine professionelle Erkenntnis.
Und auch seine Vorgesetzten im Sheriff-Büro von Orange County hatten ja beschlossen, Bob Arctor in den Brennpunkt ihres Interesses zu rücken; sie hatten zweifellos gute Gründe dafür, Grunde, über die er nichts wußte. Vielleicht bestätigten diese gleichzeitigen Entwicklungen einander: Das wachsende Interesse der Behörden an Arctor – immerhin hatte es die Abteilung eine ganz schöne Stange Geld gekostet, die Holo-Kameras in Arctors Haus zu installieren und ihn dafür zu bezahlen, daß er die Ergebnisse dieser Überwachungstätigkeit analysierte, und dann waren da ja auch noch die anderen Beamten weiter oben, die sich das abschließende Urteil über das Material bilden mußten, das er in regelmäßigen Abständen an sie weiterleitete – dieses Interesse paßte gut zu der Tatsache, daß Barris seine Aufmerksamkeit in einem unüblichen Maße auf Arctor richtete; beide Parteien hatten Arctor zu ihrem Primärziel gemacht. Aber was hatte er selbst an Arctors Verhalten bemerkt, das ihm als ungewöhnlich ins Auge gestochen war? Durch unmittelbare Beobachtung, unabhängig von den Einschätzungen der beiden anderen Parteien?
Während das Taxi weiterfuhr, überlegte er sich, daß er höchstwahrscheinlich eine ganze Weile würde Ausschau halten müssen, um auf etwas zu stoßen; die Wahrheit würde sich den Kameras und den Schirmen nicht binnen eines Tages offenbaren. Er würde viel Geduld aufbringen müssen; er würde sich darein schicken müssen, über einen langen Zeitraum Nachforschungen anzustellen und sich in einen Bewußtseinszustand zu versetzen, in dem er die notwendige Bereitschaft zum Warten aufbrachte.
Aber dann, sobald er etwas auf den Holo-Schirmen sah, irgendein dunkles, rätselhaftes Verhalten von Arctors Seite, würde Arctor plötzlich im Schnittpunkt einer Peilung von drei Fixpunkten aus stehen, und es würde eine dritte Absicherung für die Einschätzungen der anderen Parteien geben. Gewiß würde das die endgültige Bestätigung liefern. Und damit den Kostenaufwand und die Zeit rechtfertigen und den Interessen aller beteiligten Parteien dienlich sein.
Ich frage mich, was Barris weiß, was wir nicht wissen, dachte er. Vielleicht sollten wir ihn ins Behördenzentrum schleifen und ihn danach fragen. Andererseits ist es natürlich günstiger, über Material zu verfügen, das unabhängig von Barris zusammengetragen worden ist; andernfalls würden die Erkenntnisse eine bloße Verdopplung jener Erkenntnisse sein, über die Barris – wer immer er auch war oder was immer er auch darstellen mochte – verfügte.
Und dann dachte er: Was, zum Teufel, habe ich da eigentlich gerade gedacht? Ich muß verrückt sein. Ich kenne Bob Arctor doch; er ist ein guter Mensch. Er ist in nichts verwickelt.
Jedenfalls in keine üblen Sachen. Er arbeitet ja sogar, dachte er, für das Sheriff-Büro von Orange County, in einer Tarnidentität. Was möglicherweise der Grund dafür ist …
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen:
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen. [7] Anm. d. Übers.: Deutsch im Original
… warum Barris hinter ihm her ist.
Aber, dachte er, das erklärt noch nicht, warum das Sheriff-Büro von Orange County hinter ihm her ist – und zwar so sehr, daß sie diese ganzen Holos installiert und einen Full-Time-Agenten damit beauftragt haben, ihn zu überwachen und über ihn Bericht zu erstatten. Das läßt sich damit nicht erklären.
Das paßt alles nicht zusammen, dachte er. Da muß noch mehr, noch viel mehr in jenem Haus vor sich gehen, jenem heruntergewirtschafteten, schuttgefüllten Haus mit dem unkrautüberwucherten Hinterhof und den Katzenklos, die nie geleert werden, jenem Haus, wo die Tiere auf dem Küchentisch herumspazieren und die Abfalleimer überquellen, weil nie jemand den ganzen Müll nach draußen trägt.
Was für eine Verschwendung, dachte er, ein so gutes und solides Haus derartig herunterkommen zu lassen. Man könnte so viel damit machen. In diesem Haus könnte eine Familie leben, Kinder und eine Frau. Dafür war es ausgelegt: drei Schlafzimmer. So eine Verschwendung; so eine beschissene Verschwendung! Sie sollten es ihm wegnehmen, dachte er; sie sollten auf der Stelle eingreifen und die Zwangsräumung anordnen. Vielleicht werden sie das ja auch machen. Und es einer besseren Verwendung zuführen; dieses Haus schreit geradezu danach. Dieses Haus hat auch schon viel bessere Tage gesehen, vor langer Zeit. Jene Tage könnten wiederkehren. Wenn jemand, der nicht so ist wie Arctor und seine Kumpane, darin wohnen würde und es gut in Schuß hielte.
Besonders den Hof, dachte er, als das Taxi in die mit alten Zeitungen übersäte Auffahrt einbog.
Er bezahlte den Fahrer, holte seinen Türschlüssel heraus und betrat das Haus.
Sogleich spürte er, daß da etwas war, das ihn beobachtete: die auf ihn gerichteten Holo-Kameras. Von dem Moment an, da er über seine eigene Türschwelle getreten war. Er war ganz allein – keiner außer ihm im Haus. Falsch! Keiner außer ihm und den heimlichen, unsichtbaren Kameras, die ihn beobachteten und alles aufnahmen. Alles, was er tat. Alles, was er sagte.
Unwillkürlich mußte er an die Kritzeleien denken, die man manchmal sah, wenn man zum Pinkeln auf ein öffentliches Pissoir ging. LÄCHLE! DU WIRST FÜR »VORSICHT, KAMERA« GEFILMT! Und die Kamera surrt los, dachte er, sobald ich das Haus betrete. Gespenstisch. Er mochte das nicht. Er fühlte sich gehemmt; diese Empfindung war seit dem ersten Tag, vom ersten Augenblick an, nachdem sie wieder nach Hause gekommen waren, immer stärker geworden. Seit dem »Hundescheiße-Tag«, wie er ihn bei sich nannte – eine Bezeichnung, die ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Und mit jedem Tag war das Bewußtsein um die Anwesenheit der Kameras gewachsen.
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