»Etwas in der Art«, sagte Fred tonlos. »Vielleicht ein Wochenende lang, wie’s mit den Säufern gemacht wird. Manchmal wünsche ich mir, daß ich wüßte, wie man vor Wut durchdreht. Ich hab’ vergessen, wie das geht.«
»Ja, das ist eine verlorengegangene Kunst«, sagte Hank. »Vielleicht existiert irgendwo ein Handbuch dafür.
»So um 1970 rum gab’s mal einen Streifen«, sagte Fred, » The French Connection, der handelte von einem Zwei-Mann-Team vom Rauschgiftdezernat. Als die sich mal selbst einen Schuß H setzten, klinkte der eine davon total aus und erschoß jeden, der ihm vor die Flinte kam, seine Vorgesetzten eingeschlossen. Dem Typen war inzwischen alles ganz egal.
»Dann ist es vielleicht gar nicht so schlecht, daß Sie nicht wissen, wer ich bin«, sagte Hank. »Sie könnten mich höchstens rein zufällig erwischen. «
»Irgend jemand«, sagte Fred, »wird uns sowieso alle irgendwann einmal erwischen.«
»Und das wird für uns alle eine Erlösung sein. Eine wirkliche Erlösung.« Hank wühlte sich noch tiefer in den Stapel mit Aufzeichnungen. »Jerry Fabin. Den können wir wohl endgültig von der Liste streichen. Spezialklinik. Die Jungs unten im Büro sagen, Fabin habe den zuständigen Beamten auf der Fahrt zur Klinik erzählt, ein angeheuerter Killer – ein kleines Männchen ohne Beine, so ungefähr neunzig Zentimeter groß – sei Tag und Nacht auf einem Wägelchen hinter ihm hergerollt. Aber er hätte niemandem was davon erzählt, weil ihn sonst bestimmt alle für übergeschnappt gehalten hätten und sich schleunigst aus dem Staub gemacht hätten, und dann hätte er ja gar keine Freunde mehr gehabt, niemanden, mit dem er sprechen könnte.«
»Ja«, sagte Fred stoisch. »Fabian ist weg vom Fenster. Ich habe die EEG-Analyse aus der Klinik gelesen. Den können wir vergessen.«
Immer, wenn er Hank so gegenübersaß und seine Rapportnummer abzog, beobachtete er eine tiefgreifende Verwandlung seines innersten Selbst. Normalerweise wurde ihm diese Verwandlung erst nach der Sitzung bewußt, obwohl er schon während des Rapports selbst spürte, daß er aus irgendeinem Grund eine geschäftsmäßige und unbeteiligte Haltung einnahm. Ganz gleich, was in diesem Raum besprochen wurde und um wen sich das Gespräch auch immer drehen mochte – all das hatte für ihn während dieser Sitzungen keinerlei gefühlsmäßige Bedeutung.
Zuerst hatte er geglaubt, das rühre von den Jedermann-Anzügen her, die sie beide trugen; sie konnten beide die körperliche Nähe ihres jeweiligen Gegenüber nicht spüren.
Später kam er jedoch zu dem Schluß, daß es letztlich keinen Unterschied machte, ob sie die Anzüge trugen oder nicht; die Veränderung lag in der Situation selbst begründet. Aus beruflichen Gründen spielte Hank absichtlich die menschliche Wärme und die verschiedenen Gefühle herunter, die manchmal aufzukommen drohten; weder Zorn noch Liebe noch andere tief ergehende Emotionen, gleich welcher Art, würden ihm oder Hank helfen. Was nützte es ihnen denn, ihrer starken persönlichen Betroffenheit freien Lauf zu lassen, wenn sie über Verbrechen – noch dazu Kapitalverbrechen – diskutierten, die von Personen begangen worden waren, die Fred nahestanden und ihm sogar, wie im Falle von Luckman und Donna, teuer waren? Nein, sie mußten ihre Gefühle ausklammern. Und das taten sie beide, er noch mehr als Hank. Sie wurden neutral; sie sprachen in einem neutralen Tonfall; sie sahen neutral aus. Und langsam wurde es immer einfacher, die eigenen Empfindungen zu unterdrücken, selbst ohne vorherige Einstimmung.
Und hinterher sickerten dann alle seine Gefühle wieder in ihn zurück.
Entrüstung angesichts der Geschehnisse, die er hatte mit ansehen müssen. Entrüstung und sogar Entsetzen und, im Nachhinein, lähmender Schock. Große, überwältigende Gefühlssequenzen, die ohne Beispiel waren. Bildfolgen mit viel zu lautem Ton in seinem Kopf.
Aber während er hier saß, nicht nur durch den Schreibtisch von Hank getrennt, fühlte er keine dieser Emotionen. Theoretisch konnte er alles, was er ab Zeuge miterlebt hatte, völlig teilnahmslos beschreiben. Oder sich teilnahmslos alles anhören, was Hank ihm erzählte.
Zum Beispiel konnte er jetzt beiläufig sagen: »Donna stirbt langsam an Hepatitis und benutzt ihre Nadel dazu, noch so viele ihrer Freunde mitzunehmen, wie sie eben kann. Ich würde empfehlen, daß wir sie unter Druck setzen, bis sie damit aufhört.« Seine eigene Puppe … falls er das beobachtet hatte oder wenigstens wußte, daß es zutraf. Oder: »Donna hat ein Mickymaus-LSD-Analog geschluckt und leidet jetzt unter akuter Gefäßverengung im letzten Stadium. Die Hälfte der Blutgefäße in ihrem Gehirn ist schon dicht.« Oder: »Donna ist tot.« Und Hank würde das seelenruhig notieren und vielleicht fragen: »Wer hat ihr den Stoff verkauft, und wo wird er hergestellt?« oder. »Wo ist die Beerdigung? Wir sollten auf jeden Fall die Autonummern registrieren und so die Namen der Leute herausfinden, die an der Beerdigung teilnehmen.« Und er, Fred, würde völlig emotionslos mit Hank darüber diskutieren.
Das war Fred. Aber später irgendwann verwandelte sich Fred wieder in Bob Arctor, irgendwo auf dem Bürgersteig zwischen dem Pizza-Schuppen und der Arco-Tankstelle (wo das Normalbenzin jetzt einen Dollar und zwei Cent pro Gallone kostete), und die fürchterlichen Farben sickerten wieder in ihn zurück, ob ihm das nun gefiel oder nicht.
Diese Verwandlung, die er in seiner Identität als Fred erlebte, war eine Art »Ökonomie der Leidenschaften«, Auch Feuerwehrleute und Ärzte und Leichenbestatter gingen bei ihrer Arbeit auf den gleichen Trip. Keiner von ihnen konnte alle paar Augenblicke aufspringen und losschreien; durch ein solches Verhalten würden sie sich zuerst selbst aufreiben und nutzlos werden und anschließend auch die Menschen in ihrer Umgebung fertigmachen. Und das gleichermaßen als Techniker während der Arbeitszeit und als Menschen in ihrem Privatleben. Jedes Individuum hat nur eine beschränkte Menge von Energie, über die es verfugen kann.
Hank zwang Fred diese Leidenschaftslosigkeit nicht auf; er gestattete ihm vielmehr, so zu sein. Um seinetwillen. Fred rechnete ihm das hoch an.
»Was ist mit Arctor?« fragte Hank.
Zu allem Überfluß erstattete Fred in seinem Jedermann-Anzug auch noch über sich selbst Bericht. Tat er das nicht, dann würde sein Vorgesetzter – und durch ihn die gesamte Behörde – gewahr werden, wer Fred war, Anzug oder nicht. Und die Spitzel, die die ST-Agentur in den Polizeiapparat eingeschleust hatte, würden der Agentur diese brandheiße Neuigkeit natürlich sofort melden. Und dann würde Fred, der als Bob Arctor in seinem Wohnzimmer saß und zusammen mit anderen Dopern Dope rauchte und Dope einpfiff, plötzlich entdecken, daß auch hinter ihm ein neunzig Zentimeter großer Killer auf einem Wägelchen herrodelte. Und er, Bob Arctor, würde nicht halluzinieren, wie Jerry Fabin das getan hatte.
»Arctor rührt sich im Moment nicht«, sagte Fred – seine Standardantwort. »Arbeitet bei der Briefmarkensammelstelle des Blauen Chip, schluckt täglich ein paar Tabletten Tod, der mit Methedrin gepanscht ist –«
»Ich bin mir da nicht so sicher.« Hank spielte mit einem Blatt Papier, das er aus dem Stoß vor sich gekramt hatte. »Wir haben hier einen Tip von einem Informanten, dessen Hinweise für gewöhnlich sauber sind, daß Arctor wesentlich mehr Geld zur Verfügung hat, als ihm die Leute vom Blauen Chip bezahlten. Wir haben deshalb dort angerufen und uns nach Arctors Nettoeinkommen erkundigt. Hoch ist es nicht. Und als wir dann nachhakten, um festzustellen, woran das liegt, da haben wir erfahren, daß er nicht die ganze Woche über dort arbeitet. Also muß Arctor einen Nebenverdienst haben, von dem wir bisher nichts wußten.«
»Ach wirklich?« sagte Fred niedergeschlagen. Er begriff natürlich, daß es sich bei dem »Nebenverdienst«, von dem Hank sprach, um die Einkünfte aus seiner Tätigkeit als Rauschgiftagent handelte. Jede Woche erhielt er von einer Maschine, die sich als Automat für Dr. Pepper’s Diät-Sprudel in einem mexikanischen Stehimbiss in Placentia tarnte, eine bestimmte Geldsumme in kleinen Scheinen – hauptsächlich Honorare für Informationen, die er geliefert hatte und die vor Gericht zu einem Schuldspruch geführt hatten. Manchmal war diese Summe außergewöhnlich groß, etwa dann, wenn dank Arctors Hilfe eine besonders große Lieferung Heroin abgefangen werden konnte.
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