»Ja. Deswegen mußt du uns mit Gödel zusammenbringen. Du mußt. Jetzt erkenne ich die Wahrheit.«
»Welche Wahrheit?«
»Barnes Wallis hat sich hinsichtlich der Deutschen geirrt. Ihre Zeitmaschine ist mehr als nur eine Drohung. Sie haben sie schon gebaut!«
Jetzt waren wir alle aufgesprungen und redeten wild durcheinander. »Was?« »Was sagst du da?« »Wie…?«
»Wir befinden uns bereits in einer Version der Geschichte«, referierte der Morlock, »die von den Deutschen konstruiert worden ist.«
»Woher willst du das wissen?« hakte ich nach.
»Meine Kenntnisse der Vorgänge im zwanzigsten Jahrhundert sind nur lückenhaft«, ewiderte er. »Aber ich glaube mich zu erinneren, daß es keinen derartigen Krieg in Europa gab, der sich über mehrere Jahrzehnte hinzog. In meiner Geschichte gab es wohl 1914 einen Krieg — aber er endete schon 1918 mit einem Sieg der Alliierten über Deutschland. 1939 brach ein neuer Konflikt aus, aber da hatte Deutschland eine andere Staatsform. Und…«
Ich fühlte mich irgendwie komisch — schwindelig — und zog einen Stuhl herbei und setzte mich hin.
Filby schaute schockiert drein. »Diese verdammten Deutschen — ich kann euch sagen! Ich habe euch doch gesagt, daß sie nur Ärger machen!«
»Ich frage mich, ob diese letzte Schlacht, von der Filby erzählt hat — die Kaiserschlacht — irgendwie zugunsten der Deutschen manipuliert wurde«, sinnierte Moses. »Vielleicht durch die Ermordung eines alliierten Kommandeurs…«
»Die Bombardierung von Paris«, fragte der völlig konsternierte Filby, »könnte es das gewesen sein?«
Ich erinnerte mich an Wallis' Horrorgeschichten über deutsche Soldaten, die in die britische Geschichte einfielen… »Was sollen wir tun? Wir müssen diesen fürchterlichen Zeitkrieg beenden!«
»Bring uns zu Gödel«, verlangte der Morlock.
»Aber warum?«
»Weil es nur Gödel gewesen sein kann, der das deutsche Plattnerit hergestellt hat!«
Nach dem Mittagessen wollte Wallis mich wieder sehen. Er begann sofort, mich zu einer Entscheidung hinsichtlich einer Mitarbeit an seinem Projekt zu drängen.
Ich verlangte, ins Imperial College gebracht zu werden, um mit diesem Kurt Gödel zu sprechen. Zuerst sperrte sich Wallis: »Gödel ist ein schwieriger Mensch — ich weiß nicht, was Sie von einer solchen Begegnung hätten — und die Sicherheitsvorkehrungen sind ziemlich streng…« Aber ich insistierte und schob das Kinn vor, bis Wallis schließlich nachgab. »Geben Sie mir dreißig Minuten«, sagte er, »und ich werde alles veranlassen.«
Die Zeit schien fast spurlos am Imperial College vorübergegangen zu sein; auch die Neugründung aus den drei mir bekannten, vormals selbständigen Instituten machte sich nicht bemerkbar. Da war der Zentralturm aus weißem behauenem Stein, von Löwen flankiert und umgeben von ziemlich unansehnlichen Gebäuden aus roten Ziegelsteinen, welche diesen funktionalen Ort der akademischen Bildung ausmachten. Aber ich sah auch, daß aufgrund des durch den Krieg bedingten Aufgabenzuwachses einige Nachbargebäude mit Beschlag belegt worden waren: insbesondere das Wissenschaftsmuseum war Wallis' Direktorat für Zeitverschiebungs-Kriegsführung zugeschlagen worden, und auf dem Campus standen noch einige neuere Bauten — die meisten flach, schlicht und offensichtlich hastig hochgezogen, ohne jeden Sinn für architektonische Feinheiten — und alle diese Gebäude wurden durch neue, überdachte Korridore miteinander verbunden, die den Campus wie Ketten von Maulwurfshügeln durchzogen.
Wallis sah auf die Uhr. »Wir haben noch etwas Zeit, bis Gödel uns empfangen kann«, sagte er. »Kommen Sie mit — ich habe die Genehmigung erhalten, Ihnen etwas anderes zu zeigen.« Er grinste jungenhaft und enthusiastisch. »Unser ganzer Stolz!«
Also führte er mich in dieses Labyrinth aus Korridoren. Ihre Innenwände bestanden aus unverputztem Beton und wurden durch nackte Glühbirnen spärlich erleuchtet. Ich erinnere mich noch, wie das düstere Licht die Konturen von Wallis' schmalen Schultern und seinen staksigen Gang akzentuierte, während er mich tiefer in dieses Labyrinth führte. Wir passierten einige Tore, wobei Wallis jedesmal seine Marke kontrollieren lassen und diverse Papiere vorweisen mußte; außerdem bekam er die Fingerabdrücke abgenommen und ließ einen Abgleich seines Gesichts mit Photographien über sich ergehen etc. Zudem wurde auch bei mir ein solcher optischer Abgleich durchgeführt, und wir beide wurden sogar zweimal einer Leibesvisitation unterzogen.
Unser Weg beschrieb einige Windungen und Kurven; dennoch versuchte ich mich zu orientieren und legte im Kopf eine Karte der verschiedenen Anschlußstellen des College an.
»Das College ist ein wenig erweitert worden«, bemerkte Wallis. »Wir haben leider das Royal College of Music, das College of Art und sogar das Natural History Museum verloren — dieser verdammte Krieg, was? Und Sie werden begreifen, daß sie eine große Baustelle für diesen neuen Kram einrichten mußten.
Über das Land verteilt existieren noch immer einige gute wissenschaftliche Einrichtungen, wie z. B. die Royal Ordnance-Werke in Chorley und Woolwich, die Vickers-Armstrong-Werke in Newcastle, Barrow, Weybridge, Burhill und Crawford, das Royal Aircraft Establishment in Farnborough, das Armament und Aeronautical Experimental Establishment in Boscombe Down…« — und so weiter. Die meisten dieser Einrichtungen waren in Bunker oder Kuppeln ausgelagert worden. Nichtsdestoweniger war das erweiterte Imperial zum ersten britischen Forschungszentrum für Militärtechnologie avanciert…
Nach weiteren Sicherheitsüberprüfungen betraten wir eine Art Hangar, der hell erleuchtet war und in dem es intensiv nach Schmierfett, Gummi und geschweißtem Metall roch. Auf dem fleckigen Betonboden standen Motorfahrzeuge in allen Stadien der Demontage; zwischen ihnen liefen Männer in Overalls herum, von denen einige sogar pfiffen. Meine übliche, durch die Kuppel verursachte Bedrückung legte sich ein wenig. Ich habe schon oft erlebt, daß manuelle Arbeit die schlimmsten Beschwerden lindert.
»Das hier«, verkündete Wallis, »ist unsere ZVF-Entwicklungsabteilung.«
»ZVF? Ach ja — ich erinnere mich. Zeitverschiebungs-Fahrzeug.«
In diesem Hangar arbeiteten fröhliche Arbeiter an der Konstruktion von Zeitmaschinen — und offensichtlich in einem industriellen Maßstab!
Wallis führte mich zu einem der Fahrzeuge, das schon ziemlich komplett wirkte. Dieses Zeit-Fahrzeug, wie ich es in Gedanken nannte, war viereinhalb Fuß hoch und hatte Quaderform; die Kabine schien vier oder fünf Personen aufnehmen zu können, und das Fahrzeug saß auf drei Räderpaaren, um die eine Kette verlief. Außerdem verfügte es über Lampen, Krampen und sonstige, überall verteilte Ausrüstungsgegenstände. An jeder Ecke des Aufbaus war eine mehrere Zoll dicke Flasche angeflanscht; diese Flaschen waren offensichtlich hohl, denn sie waren mit Schraubverschlüssen versehen. Das Gerät hatte keinen Anstrich, und sein waffengraues Finish reflektierte das Licht.
»Es sieht etwas anders aus als Ihr Prototyp-Design, nicht wahr?« erkannte Wallis. »Es basiert eigentlich auf einem Standard-Militärfahrzeug — dem Universalschlepper — und funktioniert natürlich auch wie ein Motorfahrzeug. Schauen Sie hier: da sitzt ein V-8-Motor von Ford, der die Ketten über diese Zahnräder antreibt — sehen Sie? Und lenken können Sie durch die Verschiebung dieses vorderen Fahrgestells…« — er verdeutlichte es mit Gesten — »…so; oder, wenn Sie eine schärfere Kurve bewältigen müssen, können Sie eine Kette abbremsen…«
Ich zupfte an meinem Kinn herum. Ich fragte mich, wieviel ich wohl von den Welten gesehen hätte, auf denen ich bereits gewesen war, wenn ich sie ängstlich aus dem Innern eines derartigen Zeit-Fahrzeugs beäugt hätte!
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