Ich stellte mir vor, daß Großbritannien und Deutschland irgendwo hierher projiziert würden, als zwei weitere Spritzer am felsigen Himmel. Ich dachte an diese beiden Nationen, die mir jetzt, aus meiner erhöhten Perspektive, in einem Zustand der völligen wirtschaftlichen und moralischen Unordnung zu sein schienen, über die nachzudenken die wenigsten von uns den Mut aufbrachten. Da war z. B. eine in beiden Ländern aktive Klasse von lautstarken Kriegstreibern, welche die Leute dazu anhielten und überredeten, alle verfügbaren materiellen Ressourcen und ihre gesamte Energie in das rein destruktive und verschwenderische Geschäft des Krieges zu investieren. Und ich bezweifle, daß es im Jahre 1891 auch nur einen Menschen gegeben hatte, der mir den Nutzen eines solchen Krieges hätte nennen können, ungeachtet seines Ausgangs! — Und wie lächerlich und sinnlos ein solcher Konflikt erscheinen würde, wenn Großbritannien und Deutschland in das Innere dieser monströsen Sphäre projiziert worden wären.
Überall in der Sphäre fielen Millionen unersetzlicher Menschenleben solchen Konflikten zum Opfer — die mir so entfernt und bedeutungslos vorkamen wie die Deckengemälde einer Kathedrale — und doch, welchen Zweck konnte die Menschheit angesichts der ganzen Ressourcen dieser großen Sphäre benennen, um dieses endlose Gemetzel zu rechtfertigen? Man hätte annehmen können, daß die Menschen, die in dieser Sphäre lebten — und in der Lage waren, Millionen Insel-Welten wie die ihren zu sehen — ihre belanglosen kleinen Zwistigkeiten aufgegeben hätten und zu der Erkenntnis gelangt wären, die jetzt mir zuteil geworden war. Aber anscheinend lagen die Dinge anders; nach wie vor dominierten die niederen Instinkte der Menschen, sogar im Jahre 657208 n. Chr. Hier in der Sphäre reichte offensichtlich nicht einmal der Anschauungsunterricht aus, den Tausende, ja Millionen Kriege überall am Himmel boten, der Menschheit die Augen für die Sinnlosigkeit und Grausamkeit von gewaltsamen Auseinandersetzungen zu öffnen!
Im Kontrast hierzu schweiften meine Gedanken zu Nebogipfel und seinen Leuten ab, zu ihrer rationalen Gesellschaft. Ich will nicht verhehlen, daß mich beim Gedanken an die Morlocks und ihre unnatürlichen Praktiken noch eine gewisse Abscheu touchierte, aber ich begriff jetzt, daß dies auf meine primitiven Vorurteile und die schlechten Erfahrungen auf Weenas Welt zurückzuführen war, die aber als Beurteilungskriterien für Nebogipfel völlig untauglich waren.
Ich konnte mir denken, wie die Aufhebung der Zweigeschlechtlichkeit bei den Morlocks zustandegekommen war. Zunächst muß man um seine eigene Existenz und die der eigenen Kinder kämpfen. Dann wird man für seine Geschwister kämpfen — aber vermutlich nur mit verringerter Intensität, weil nämlich das gemeinsame Erbe geteilt werden muß. Aufgrund der nächsten Priorität wird man dann für seine Neffen und Nichten kämpfen und weiterhin mit abnehmender Intensität für die entferntere Verwandtschaft.
Somit können die Aktivitäten und Loyalitäten der Menschen mit deprimierender Verläßlichkeit vorhergesagt werden; denn nur in einer solchen Treuehierarchie — in einer Welt der Knappheit und Instabilität — kann das Erbe der Menschen für zukünftige Generationen aufbewahrt werden.
Aber das Erbe der Morlocks war gesichert — und nicht durch ein einzelnes Kind oder eine Familie, sondern durch die große kollektive Ressource in Gestalt der Sphäre. Und so wurde die Differenzierung und Spezialisierung der Geschlechter irrelevant — und schadete sogar dem ordentlichen Ablauf der Dinge.
Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dachte ich, daß es genau diese Diagnose war — das Verschwinden der Geschlechter von einer stabil, wohlhabend und friedlich gewordenen Welt —, die ich einst den überzüchteten und dekadenten Eloi gestellt hatte. Und jetzt mußte ich erkennen, daß es ihre häßlichen Cousins, die Morlocks, waren, die — in dieser Version der Historie — tatsächlich dieses ferne Ziel erreicht hatten!
All das ging mir durch den Kopf. Und langsam — es dauerte einige Tage — gelangte ich zu einer Entscheidung, was meine Zukunft betraf.
Meines Bleibens in diesem Sphäreninneren war nicht länger; nach der gottähnlichen Perspektive, die Nebogipfel mir verschafft hatte, konnte ich es nicht mehr ertragen, mein ganzes Leben und alle Energien an einen der bedeutungslosen Konflikte zu verschwenden, die wie Buschfeuer über diese weiten Ebenen rasten. Ebensowenig konnte ich bei Nebogipfel und den Morlocks bleiben; denn ich bin nun mal kein Morlock, und meine fundamentalen menschlichen Bedürfnisse machten es mir unmöglich, ein solches Leben wie Nebogipfel zu führen.
Außerdem — wie ich bereits gesagt habe — konnte ich nicht mit dem Wissen leben, daß meine Zeitmaschine noch existierte, eine Maschine, welche die Geschichte derart beschädigen konnte!
Ich begann eine Problemlösung für das alles zu entwerfen und rief dann Nebogipfel.
»Beim Bau der Sphäre«, dozierte Nebogipfel, »ereignete sich eine Abspaltung. Diejenigen, die an der bisherigen Lebensweise der Menschheit festhalten wollten, ließen sich im Inneren nieder. Und diejenigen, welche die alte Dominanz der Gene eliminieren wollten…«
»…wurden Morlocks. Und so ziehen sich die Kriege — ohne Sinn und Ende — wie Wellen über die grenzenlose Oberfläche des Inneren.«
»Ja.«
»Nebogipfel, besteht der Zweck der Sphäre darin, diesen Quasi-Menschen — diesen neuen Eloi — Platz für ihre Kriegsführung zu geben, ohne die Menschheit zu vernichten?«
»Nein.« Er hielt seinen Sonnenschirm in einer würdevollen Haltung hoch, die ich nicht länger komisch fand. »Natürlich nicht. Die Sphäre ist für die Morlocks erschaffen worden: um die Energien eines Sterns für den Erwerb von Wissen nutzbar zu machen.« Er blinzelte mit seinen großen Augen. »Denn welche anderen Ziele könnten intelligente Wesen haben, wenn nicht die Gewinnung und Speicherung von Informationen?«
Das mechanische Gedächtnis der Sphäre, sagte er, war wie eine riesige Bibliothek, die das Wissen der Rasse speicherte, welches über eine halbe Million Jahre angehäuft worden war. Und ein großer Teil der geduldigen Arbeit der Morlocks, die ich gesehen hatte, war der weiteren Sammlung von Informationen gewidmet bzw. der Klassifikation und Neubewertung schon vorhandener Daten.
Sie waren ein Volk von Gelehrten! — und die ganze Energie der Sonne wurde dem geduldigen, korallenartigen Wachstum dieser großen Bibliothek zugeführt.
Ich nibbelte mir den Bart. »Ich verstehe das — zumindest das Motiv. Ich glaube, daß es sich nicht sonderlich von den Impulsen unterscheidet, die auch mein eigenes Leben bestimmen. Aber befürchtet ihr denn nicht, daß ihr eines Tages diese Suche mal beenden werdet? Was wollt ihr tun, wenn die Mathematik perfektioniert und der praktische Beweis der Weltformel erbracht worden ist?«
Er schüttelte den Kopf, eine weitere Geste, die er mir abgeschaut hatte. »Das ist nicht möglich. Ein Mann deiner Zeit — Kurt Gödel — hat das als erster gezeigt.«
»Wer?«
»Kurt Gödel: Ein Mathematiker, der zehn Jahre nach deiner Abreise in die Zeit geboren wurde…«
Dieser Gödel — so erfuhr ich mit Erstaunen — würde in den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nachweisen, daß die Mathematik keine endliche Struktur ist; vielmehr müssen ihre logischen Systeme ständig durch die Integration wahrer oder falscher Axiome angereichert werden…
»Der Gedanke daran verursacht mir Kopfschmerzen! — ich kann mir vorstellen, wie man den armen Gödel empfangen hatte, als er der Welt diese Neuigkeit präsentierte. Mein alter Algebralehrer hätte ihn jedenfalls des Klassenzimmers verwiesen.«
Nebogipfel sagte: »Gödel hat gezeigt, daß unser Bestreben, Wissen und Verstehen zu mehren, nie beendet werden kann.«
Читать дальше