Aber was ich dann sah, nahm mir jegliche Hoffnung.
Dieser Gürtel um die Erde war zwar noch da, und die Verbindungen zwischen den leuchtenden Stationen standen so hell wie immer —, aber ich bemerkte, daß die senkrechten Linien, mit denen die Stadt auf dem Planeten verankert gewesen war, verschwunden waren. Während ich mit dem Morlock beschäftigt war, hatten die Bewohner der Orbitalstadt ihre Aufzüge abgebaut und damit die Nabelschnur zur Mutter Erde durchtrennt.
Außerdem sah ich, daß ein gleißendes Licht aus einigen der Stationen drang. Dieses Glühen wurde von den Eisflächen der Erde reflektiert, wie ein Kranz aus Miniatursonnen. Der Metallring verließ seine Position über dem Äquator. Zuerst nahm er nur langsam Fahrt auf; aber dann schien sich die Stadt um ihre Achse zu drehen — glühend wie ein Feuerrad — bis sie sich so schnell bewegte, daß ich die einzelnen Stationen nicht mehr erkennen konnte.
Dann war sie weg, von der Erde losgelöst und im Weltall verschwunden.
Die Symbolik dieser großen Absatzbewegung war überwältigend, und ohne das Feuer aus den großen Triebwerken wirkten die Eisfelder der verlassenen Erde noch kälter und grauer als zuvor.
Ich setzte mich wieder ins Fahrzeug. »Es stimmt«, sagte ich zu Nebogipfel.
»Was stimmt?«
»Daß die Erde aufgegeben ist — die Orbitalstadt hat sich losgelöst und ist verschwunden. Der Planet ist am Ende, Nebogipfel — und wir auch, wie ich befürchte!«
Trotz all meiner Bemühungen, ihn wach zu halten, tauchte Nebogipfel in die Bewußtlosigkeit ab; und irgendwann fehlte mir dann die Kraft, weiterzumachen. Ich schmiegte mich an den Morlock und versuchte, seinen klammen, kalten Körper vor der schlimmsten Kälte zu schützen, aber wie mir klar war, ohne viel Erfolg. Ich wußte, daß unsere Reise in Anbetracht des Zeitreisefaktors nicht länger als insgesamt dreißig Stunden dauern konnte — aber was, wenn das deutsche Plattnerit oder Nebogipfels improvisierte Konstruktion fehlerhaft waren? Dann wäre ich für immer in diesem Kontinuum gefangen und würde langsam tiefgefroren — oder ich konnte jeden Moment auf das ewige Eis stürzen.
Ich muß wohl eingeschlafen sein — oder das Bewußtsein verloren haben.
Ich glaubte, den Beobachter — diesen großen breiten Kopf — vor meinen Augen schweben zu sehen, und hinter seinem gliederlosen Torso konnte ich dieses grünliche Sternenfeld erkennen. Ich versuchte, nach den Sternen zu greifen, denn sie schienen so hell und warm; aber ich konnte mich nicht bewegen — vielleicht träumte ich das alles auch nur — und dann war der Beobachter verschwunden.
Schließlich war die Kapazität des Plattnerits erschöpft; das Fahrzeug schlich nur noch dahin, und dann fiel es wieder in die Realzeit zurück.
Das perlartige Glühen des Himmels löste sich auf, und das blasse Sonnenlicht verschwand, als ob ein Schalter betätigt worden wäre: und ich stürzte in die Dunkelheit.
Der letzte Rest unserer aus dem Paläozän importierten Wärme verpuffte in der kalten Luft. Ich spürte, wie Eis an meinem Fleisch nagte — es brannte wie Feuer — und ich konnte nicht atmen, wobei ich nicht wußte, ob das an der Kälte oder an irgendwelchen Schadstoffen in der Luft lag, und bald spürte ich einen starken Druck auf der Brust, als ob ich ertrinken würde.
Ich wußte, daß ich gleich für längere Zeit das Bewußtsein verlieren würde. Deshalb beschloß ich, mir wenigstens dieses 1891 anzusehen, das sich so sehr von meiner eigenen Welt unterschied, bevor ich starb.
Ich zog die Arme unter den Körper — ich konnte die Hände schon nicht mehr spüren — und stemmte mich hoch, bis ich halb saß.
Die Erde lag in einem silbernen Licht, das an Mondlicht erinnerte (zuerst kam es mir jedenfalls so vor). Das Zeitfahrzeug stand wie ein ramponiertes Spielzeug im Zentrum einer alten Eisfläche. Es war Nacht, und es waren keine Sterne zu sehen — zunächst glaubte ich, daß sie sich hinter Wolken verbargen — aber dann sah ich tief am Himmel die Sichel des Neumondes, und ich konnte mir das Fehlen der Sterne nicht erklären; ich fragte mich, ob meine Augen vielleicht unter der Kälte gelitten hätten. Erfreut stellte ich fest, daß die Schwesterwelt noch immer grün war; vielleicht lebten dort noch Menschen. Wie strahlend mußte die gefrorene Erde am Himmel dieser jungen Welt stehen! Dicht beim Mond leuchtete ein helles Licht: kein Stern, denn dazu war es zu nahe — vielleicht war es der Reflex der Sonne auf einem lunaren Meer.
Ein Winkel meines versagenden Gehirns veranlaßte mich, nach der Quelle des silbrigen ›Mondlichts‹ zu suchen, denn es spiegelte sich jetzt an der Wandung des Zeitfahrzeugs, die sich bereits mit einer Eisschicht überzog. Wenn der Mond noch immer grün war, konnte er nicht der Ursprung dieses elfenhaften Glühens sein. Was also dann?
Mit letzter Kraft hob ich den Kopf. Und da, weit über mir am sternenlosen Himmel, hing eine glühende Scheibe: ein schimmerndes, hauchzartes Gebilde, das wie eine Spinnwebe wirkte und ein dutzendmal größer als die Scheibe des Vollmonds war.
Und auf der Eisfläche hinter dem Zeitfahrzeug stand geduldig…
Ich konnte es nicht erkennen; ich fragte mich, ob meine Augen wirklich den Dienst quittierten. Es war pyramidenförmig, etwa mannshoch, aber seine Konturen waren verschwommen, als ob es sich in ständiger insektenhafter Wallung befinden würde.
»Bist du lebendig?« wollte ich diese häßliche Vision fragen. Aber mein Hals war wie zugeschnürt, meine Stimme eingefroren, und ich konnte keine Fragen mehr stellen.
Schwärze umfing mich, und die Kälte fiel endlich von mir ab.
Ich öffnete die Augen, oder vielmehr hatte ich den Eindruck, daß meine Augenlider hochgezogen oder vielleicht auch abgeschnitten wurden. Meine Sicht war trübe, die Wahrnehmung der Welt gebrochen; ich fragte mich, ob meine Augäpfel vereist wären — vielleicht sogar ganz gefroren. Ich starrte zu einem willkürlichen Punkt am dunklen, sternenlosen Himmel; an der Peripherie des Blickfeldes sah ich einen Hauch von Grün — vielleicht der Mond? — aber ich konnte mich nicht bewegen, um es genau festzustellen.
Ich atmete nicht. Im nachhinein sagt sich das leicht, aber es ist schwer, die Panik zu vermitteln, die ich bei der Feststellung dieses Sachverhalts spürte! Ich fühlte mich, als ob ich mich außerhalb meines Körpers befinden würde; es fehlte jegliche mechanische Aktivität — die Bewegung des Atems und das Klopfen des Herzens, die millionenfachen winzigen Zuckungen von Muskeln und Membranen — die alle, ohne daß sie überhaupt wahrgenommen werden, das Korsett unseres menschlichen Lebens bilden. Es war, als ob mein ganzes Sein, meine ganze Identität, sich in diesem offenen, starrenden, fixierten Blick verdichtet hätte.
Ich dachte mir, daß ich eigentlich hätte Furcht verspüren und wie ein Ertrinkender nach Luft schnappen müssen. Aber kein derartiger Drang überkam mich: ich fühlte mich nur schläfrig, kaum meiner Sinne mächtig, als ob ich narkotisiert worden wäre.
Ich glaube, daß es dieses Fehlen des Schreckens war, das mich davon überzeugte, tot zu sein.
Jetzt bewegte sich ein Schatten über mir und verstellte mir die Sicht auf den leeren Himmel. Es war annähernd pyramidenförmig, mit unscharfen Kanten; es war wie ein in Wolken gehüllter Berg, der mich überragte.
Natürlich erkannte ich diese Erscheinung wieder: es war das Ding, das vor mir gestanden hatte, als wir exponiert auf dem Eis lagen. Jetzt kam diese Maschine — das mußte sie in meinen Augen nämlich sein — auf mich zu. Sie bewegte sich auf eine seltsam fließende Art; wenn man sich vorstellt, wie die Sandkörner beim Kippen einer Sanduhr strahlförmig rieseln, kann man den Effekt ungefähr erahnen. Am Rande meines Blickfeldes sah ich, wie die verschwommene Kante der Maschine über meinen Bauch und die Brust glitt. Dann spürte ich, wie ein anhaltendes Prickeln — winzige Stiche — durch Brust und Bauch verlief.
Читать дальше