»Du verstehst nicht«, zischte er.
»Was?«
»Das ist nicht nur eine Eiszeit. Siehst du das denn nicht? Es ist ein qualitativer Unterschied… die Instabilität…« Er schloß wieder die Augen.
»Was meinst du damit? Wird das länger dauern als zuvor? Hunderttausend, eine halbe Million Jahre? Wie lange?«
Aber er antwortete nicht.
Ich schlug die Arme um den Körper und versuchte mich zu wärmen. Die Kälte schlug ihre Klauen tiefer in die Erde, und jedes Jahrhundert wurde die Eisdecke dicker, wie eine langsam steigende Flut. Der Himmel über uns schien sich aufzuhellen — das Licht des Sonnenbandes war hell und intensiv, offensichtlich jedoch ohne Wärme — und ich vermutete, daß der Schaden, der dieser dünnen, lebensspendenden Gashülle zugefügt worden war, langsam wieder heilte, wo die Menschen von der Erde verschwunden waren. Diese Orbitalstadt hing noch immer glühend und unzugänglich am Himmel über dem gefrorenen Land, aber es gab keine Spuren von Leben mehr auf der Erde, ganz zu schweigen von Menschen.
Nach einer Million Jahren begann ich die Wahrheit zu ahnen!
»Nebogipfel«, sprach ich. »Sie wird nie zu Ende gehen — diese Eiszeit. Stimmt's?«
Er drehte den Kopf und nuschelte etwas.
»Was?« Ich legte mein Ohr dicht an seinen Mund. »Was hast du gesagt?«
Er hatte die Augen geschlossen; er war bewußtlos.
Ich nahm Nebogipfel und hob ihn von der Bank. Dann legte ich ihn auf den Holzboden des Zeitfahrzeugs, legte mich neben ihn und preßte meinen Körper gegen den seinen. Es war nicht schrecklich unbequem: der Morlock lag wie ein gefrorenes Stück Fleisch auf meiner Brust und ließ mich nur noch mehr frieren; und außerdem mußte ich meinen unterschwelligen Ekel vor der Spezies der Morlocks unterdrücken. Aber ich ertrug das alles, denn ich hoffte, daß meine Körperwärme ihn etwas länger am Leben erhalten würde. Ich sprach zu ihm und massierte seine Schultern und Oberarme; auf diese Art machte ich weiter, bis er aufwachte, denn ich glaubte, daß er — wenn er weiter bewußtlos geblieben wäre — in diesem Zustand in den Tod hätte abgleiten können.
»Erzähl mir von dieser klimatischen Instabilität«, verlangte ich.
Er verdrehte den Kopf und nuschelte: »Was soll das jetzt noch für einen Sinn haben? Deine Freunde, die Neuen Menschen, bringen uns um…«
»Der Sinn ist der, daß ich gerne wüßte, was mich umbringt.«
Nach weiteren einschlägigen Überredungsversuchen zeigte sich Nebogipfel endlich gesprächsbereit.
Er erzählte mir, daß die Erdatmosphäre eine dynamische Angelegenheit sei. Nebogipfel sagte, daß sie zwei natürliche, stabile Zustände annehmen konnte, die beide lebensfeindlich waren, und sie würde das auch tun und aus dem schmalen Band, in dem Leben gedeihen konnte, heraustreten, wenn sie zu stark gestört wurde.
»Aber das verstehe ich nicht. Wenn die Atmosphäre wirklich eine so instabile Mischung ist, wie du sagst, warum hat sie uns dann über so viele Millionen Jahre am Leben erhalten?«
Er erklärte mir, daß die Entwicklung der Atmosphäre von den Prozessen des Lebens selbst stark beeinflußt worden war. »Es besteht ein Gleichgewicht — von atmosphärischen Gasen, Temperatur und Druck — das ideal für das Leben ist. Und so trägt das Leben — in großen, unbewußten Zyklen, in die Billiarden emsig arbeitender Organismen involviert sind — zur Aufrechterhaltung dieses Gleichgewichts bei.
Aber diese Balance ist inhärent instabil. Verstehst du? Sie ist wie ein Bleistift, der auf seiner Spitze balanciert: er wird bei der geringsten Störung sofort umkippen.« Er drehte den Kopf. »Wir Morlocks wissen, daß ihr in die Lebenszyklen eingreift; wir wissen, daß man, wenn die diversen Stabilisierungsmechanismen der Atmosphäre schon beeinträchtigt worden sind, diese zumindest reparieren oder austauschen muß. Wie bedauerlich«, sagte er seufzend, »daß diese Neuen Menschen — deine Helden des Weltraums — diese einfachen Lektionen nicht gelernt hatten!«
»Erzähl mir etwas über die zwei Stabilitäten, Morlock; es hat nämlich den Anschein, daß wir in eine von beiden hineingeraten!«
Im ersten dieser stabilen Zustände würde laut Nebogipfel die Erdoberfläche verbrennen: die Atmosphäre würde so undurchdringlich wie die Wolken über der Venus werden und die Abstrahlung der Sonnenwärme verhindern. Solche kilometerdicken Wolken würden den größten Teil des Sonnenlichts abhalten und nur ein trübes, rötliches Glühen durchlassen; weder die Sonne noch die Planeten und Sterne wären dann von der Erdoberfläche aus zu sehen. In der trüben Atmosphäre würden ständig Gewitter toben, und der Erdboden wäre rotglühend: alles Leben verbrannt.
»So könnte es vielleicht sein«, meinte ich und versuchte ein Schaudern zu unterdrücken, »aber verglichen mit dieser verdammten Kälte klingt das direkt nach einem angenehmen Urlaubsort… Und der zweite deiner stabilen Zustände?«
»Weiße Erde.«
Er schloß die Augen und sprach nicht mehr mit mir.
Ich weiß nicht, wie lange wir dort lagen, zusammengerollt auf dem Boden des Zeitfahrzeugs, und versuchten, den letzten Rest von Körperwärme zu bewahren. Ich konnte mir vorstellen, daß wir die einzigen noch lebenden Wesen auf dem Planeten waren — mit Ausnahme vielleicht einiger robuster Flechten, die sich an einen gefrorenen Felsen klammerten.
Ich stieß Nebogipfel an und redete auf ihn ein.
»Laß mich schlafen«, murmelte er.
»Nein«, lehnte ich so barsch wie möglich ab. »Morlocks schlafen nicht.«
»Ich schon. Ich bin schon zu lange bei den Menschen.«
»Wenn du schläfst, wirst du sterben, Nebogipfel. Ich glaube, daß wir das Fahrzeug anhalten müssen.«
Er sagte eine Weile nichts. »Warum?«
»Wir müssen ins Paläozän zurück. Die Erde ist tot — erstarrt im Griff dieses ewigen Winters — und daher müssen wir in eine geeignetere Vergangenheit zurückgehen.«
»Das ist eine gute Idee…« — er hustete —, »abgesehen von dem Detail, daß sie undurchführbar ist. Ich hatte nämlich keine Möglichkeit, eine komplexe Steuerung in die Maschine einzubauen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Daß dieses Zeitfahrzeug rein ballistisch ist. Ich konnte es wohl in die Zukunft oder in die Vergangenheit vektorieren und auch eine bestimmte Distanz vorgeben — wir könnten zum Beispiel ins Jahr 1891 dieser Historie gelangen — aber nach der Vektorierung und dem Start kann ich seinen Flug nicht mehr beeinflussen.
Begreifst du? Das Fahrzeug folgt einem Pfad durch die Zeit, der durch die ursprünglichen Einstellungen und die Kapazität des deutschen Plattnerits definiert wird. Wir werden im Jahre 1891 ankommen — einem vereisten 1891 — und nicht früher…«
Ich spürte, wie mein Zittern nachließ — aber nicht, weil ich mich jetzt vielleicht besser fühlte, sondern, wie ich nun merkte, wegen meiner nachlassenden Kräfte.
Aber vielleicht hatten wir trotzdem noch nicht verloren, spekulierte ich wild: wenn der Planet nun doch nicht verlassen war — wenn die Menschen die Erde wieder aufbauten — vielleicht fanden wir auch eine bewohnbare Klimazone.
»Und die Menschheit? Was ist mit der Menschheit?« drängte ich Nebogipfel.
Er grunzte, und sein geschlossenes Auge rollte. »Wie hätte die Menschheit denn überleben sollen? Die Menschen haben den Planeten aufgegeben — oder sie sind allesamt ausgelöscht worden…«
»Die Erde aufgegeben?« protestierte ich. »Nicht einmal ihr Morlocks, mit eurer Sphäre um die Sonne, seid so weit gegangen!«
Ich schob mich von ihm weg und stützte mich auf die Ellbogen, so daß ich aus dem Zeitfahrzeug nach Süden sehen konnte. Denn hier — dessen war ich jetzt sicher — in Richtung der Orbitalstadt lag unsere Hoffnung.
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