Nun, es war ein Anblick, den ich nie erleben sollte. Mit Mühe riß ich mich aus meinen Mondphantasien und konzentrierte die Aufmerksamkeit wieder auf unsere Situation.
Jetzt bewegte sich etwas am westlichen Himmel, tief am Horizont: vereinzelte Lichter flackerten auf, hüpften über den Himmel und nahmen dann eine feste Position ein, um dort für lange Jahrtausende zu verharren. Bald war eine ganze Ansammlung dieser Funken beisammen, und sie verdichteten sich zu einer Art Brücke, die sich zwischen den Horizonten über den Himmel spannte; an ihrem höchsten Punkt zählte ich etliche Dutzend Lichter in dieser Himmelsstadt.
Ich machte Nebogipfel darauf aufmerksam. »Sind das Sterne?«
»Nein«, erwiderte er gleichmütig. »Die Erde dreht sich noch immer, und die echten Sterne sind wohl zu verhangen, um sichtbar zu sein. Die Lichter, die wir sehen, hängen in einer stationären Position über der Erde…«
»Was stellen sie dann dar? Künstliche Monde?«
»Vielleicht. Sie sind sicher von Menschenhand dort errichtet worden. Diese Objekte können künstlich sein — aus Material konstruiert, das von der Erde hochgeschafft wurde, oder vom Mond, dessen Gravitationsquelle viel schwächer ist. Aber es können auch natürliche Objekte sein, die mit Raketen an ihre Positionen rund um die Erde gebracht wurden: eingefangene Asteroiden oder Kometen vielleicht.«
Ich starrte mit der gleichen Ehrfurcht auf diese Lichter, mit der ein Höhlenmensch das Licht eines Kometen beäugt haben mochte, der über seinen nach oben gerichteten, dumpfen Schädel hinwegzog!
»Welchen Zweck könnten solche Raumstationen denn haben?«
»Ein solcher Satellit ist wie ein über der Erde fixierter Turm mit einer Höhe von zweiundzwanzig-tausend Meilen…«
Ich schnitt eine Grimasse. »Welch ein Anblick. Man könnte darin sitzen und die meteorologische Entwicklung einer Erdhälfte überwachen.«
»Oder die Station könnte für die Übermittlung telegraphischer Nachrichten von einem Kontinent zum anderen genutzt werden. Oder, noch radikaler, könnte man sich die Auslagerung großer Industriebetriebe — Schwerindustrie oder Energieerzeugung vielleicht — in die relative Sicherheit der Erdumlaufbahn vorstellen.«
»Aber könnte eine solche Orbital-Industrie denn überhaupt wirtschaftlich arbeiten?«
»Sicherlich — selbst in Anbetracht der knappen Budgets, die das Denken deines Jahrhunderts prägten«, bestätigte er. »Eine derartige Entwicklung bedingt zwar hohe Kapitalkosten, aber sie könnte sich schon nach wenigen Jahrzehnten amortisiert haben. Und längerfristig ist die Auslagerung der Schwerindustrie weg von der Erde ohnehin notwendig, wenn das Wirtschaftswachstum der Menschheit gesichert werden soll.«
»Wie das?«
Er öffnete die Hände. »Du erkennst selbst die Verschmutzung der Luft und des Wassers um uns herum. Die Erde verfügt nur über eine beschränkte Kapazität, die industriellen Abfallprodukte zu absorbieren, und irgendwann könnte der Planet deswegen sogar unbewohnbar werden.
Im Orbit hingegen wären dem Wachstum praktisch keine Grenzen gesetzt: denke dabei nur an die Sphäre, die meine Spezies konstruiert hat.«
Die Temperatur stieg mit zunehmender Luftverschmutzung an. Nebogipfels improvisiertes Zeitfahrzeug funktionierte zufriedenstellend, war aber schlecht kalibriert und schaukelte und schüttelte sich. Ich klammerte mich völlig erledigt an der Bank fest, denn die Kombination aus Hitze, der Schaukelei und dem üblichen, durch die Zeitreise hervorgerufenen Schwindelgefühl verursachte mir starke Übelkeit.
Die um den Äquator verlaufende Orbitalstadt entwickelte sich weiter. Ich sah, daß die zunächst chaotische Konfiguration dieser künstlichen Lichter jetzt bedeutend regelmäßiger war. Nun gab es eine aus sieben oder acht Stationen bestehende Kette, die alle hell strahlten und in gleichmäßigen Abständen um den Globus verteilt waren; ich vermutete, daß hinter dem Horizont noch mehr solcher Stationen positioniert waren, die sich in stetem Umlauf um den Äquator des Planeten befanden. Offensichtlich war die Orbitalstadt in ein neues Entwicklungsstadium eingetreten.
Nun wuchsen dünne Lichtfäden aus den glühenden Stationen und griffen wie zögernde Finger nach der Erde. Die Bewegungen waren gleichförmig und so langsam, daß wir sie mitverfolgen konnten, und ich erkannte, daß ich Zeuge gigantischer Bauprojekte wurde — Projekte, die sich über Tausende von Meilen durch den Raum erstreckten und ganze Jahrtausende umfaßten — und Ehrfurcht überkam mich angesichts der Energie und der Fähigkeiten der Neuen Menschen.
Nach einigen Sekunden tauchten die ersten dieser Lichtfäden unter den nebelverhangenen Horizont. Dann verschwand ein solcher Faden, und die Station, von der er ausgeschickt worden war, wurde wie ein Kerzenlicht in einer Brise ausgelöscht. Offenbar war der Faden heruntergefallen oder abgerissen, und seine Ankerstation war zerstört worden. Ich betrachtete die bleichen, lautlosen Bilder und fragte mich, welchen immensen Schaden — und wieviele Tote — sie wohl repräsentierten! Nach wenigen Augenblicken füllte jedoch eine neue Station die Lücke in der Äquatorialkette aus, und ein neuer Faden wurde abgewickelt.
»Ich traue meinen Augen nicht«, sagte ich zu dem Morlock. »Ich habe den Eindruck, daß sie diese Kabel aus dem Weltraum an der Erde befestigen!«
»Diesen Eindruck habe ich auch«, meinte der Morlock. »Wir sind Zeugen der Konstruktion eines Raum-Aufzuges — einer Verbindung, die zwischen der Erdoberfläche und den Stationen im Orbit eingerichtet wird.«
Ich grinste bei dieser Vorstellung. »Ein Weltraum-Aufzug! Ich würde gerne mal in einem solchen Ding mitfahren: sich über die Wolken erheben und in die majestätische Stille des Raums eintauchen — wenn der Lift aber gläserne Wände hätte, wäre das nur etwas für Schwindelfreie.«
»Wie wahr.«
Jetzt sah ich, daß weitere Lichtkabel zwischen den geostationären Stationen verlegt wurden. Bald waren die glühenden Punkte alle vernetzt, und die Fäden verdickten sich zu einem glühenden Band, das so breit und hell wie die Stationen selbst war. Erneut — obwohl ich unsere Zeitreise im Grunde nicht abbrechen wollte — wünschte ich mir, mehr von dieser großen, weltumspannenden Himmelsstadt sehen zu können.
Die Entwicklung der Erde selbst verlief in dieser Phase indessen weit unspektakulärer. Vielmehr schien es mir, als ob Alt-London stagnierte oder sogar aufgelassen worden wäre. Einige der Gebäude standen bereits so lange, daß sie uns fast fest vorkamen, obwohl sie düster, klotzig und häßlich waren; wohingegen andere zerfielen, ohne ersetzt zu werden. (Dieser Prozeß stellte sich uns als eine mit brutaler Abruptheit auftretende Lückenbildung in der komplexen Skyline dar). Es hatte den Anschein, als ob die Luft noch stickiger und das geduldige Meer noch grauer würde, und ich fragte mich, ob die Menschen sich von der verwüsteten Erde zu den Sternen oder in heimeligere Gefilde unter der Erde abgesetzt hatten.
Ich diskutierte diese Optionen mit dem Morlock.
»Vielleicht«, meinte er vage. »Aber du mußt bedenken, daß seit der Errichtung der ursprünglichen Kolonie durch Hilary Bond und ihre Leute bereits über eine Million Jahre vergangen sind. Die evolutionäre Distanz zwischen dir und den Neuen Menschen dieser Ära ist mittlerweile größer als zwischen dir und den Morlocks meiner eigenen Zeit. Wir können also bestenfalls kluge Spekulationen bezüglich der Lebensweise der hiesigen Rasse und ihrer Motive anstellen — und hinsichtlich ihrer biologischen Beschaffenheit.«
»Ja«, sagte ich nachdenklich. »Aber trotzdem…«
»Ja?«
»Aber trotzdem scheint noch die Sonne. Also hat sich die Entwicklung dieser Neuen Menschen bereits von deiner eigenen abgespalten. Auch wenn sie sich offensichtlich wie ihr im Besitz von Raumschiffen befinden, haben sie nicht das Bedürfnis, die Sonne zu verpacken, wie ihr Morlocks das getan habt.«
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