Er kam nie zurück. Die Zeitlupenaufnahmen zeigten zumindest den Anfang. Der Kabelbund hatte das Schiff einfach in Scheiben zerschnitten, wie ein hart gekochtes Ei. Die Leute darin wussten gar nicht, was mit ihnen geschah. Die Gesellschaft hat die Millionen immer noch; keiner will es mehr versuchen.
Ich bekam von Shicky eine höflich missbilligende Predigt zu hören und von Mr. Hsien einen wirklich schlimmen, aber kurzen, P-Phon-Anruf; doch das war alles. Nach ein, zwei Tagen ließ Shicky uns wieder mehr Freizeit.
Ich verbrachte sie zumeist mit Klara. Oft trafen wir uns in ihrer Unterkunft, ab und zu auch in der meinen, auf eine Stunde im Bett. Wir schliefen jede Nacht miteinander; man möchte meinen, wir hätten inzwischen voneinander genug gehabt. Aber nein. Nach einiger Zeit war ich nicht sicher, weshalb wir fickten, aus Spaß oder um uns von dem abzulenken, was in unseren Köpfen vorging. Ich lag oft da und sah Klara an, die sich nach dem Sex immer auf den Bauch drehte und die Augen schloss, selbst wenn wir zwei Minuten danach aufstehen mussten. Ich überlegte mir dann, wie gut ich jeden Winkel, jede Fläche ihres Körpers kannte. Ich roch ihren süßen, erotischen Duft und wünschte mir – oh, wie ich mir so manches wünschte! Dinge, die ich nicht ausdrücken konnte: eine Wohnung unter der großen Kuppel zusammen mit Klara, einen Druckanzug und eine Zelle in einem Venustunnel mit Klara, sogar ein Leben in den Nahrungsgruben mit Klara. Es war wohl die Liebe. Aber dann sah ich sie immer noch an, und ich konnte spüren, wie sich in mir das Bild veränderte, und was ich sah, war das weibliche Gegenstück zu mir: ein Feigling, dem die größte Chance geboten wurde, die es für einen Menschen geben konnte, und der zu viel Angst hatte, sie zu nützen.
Wenn wir nicht im Bett lagen, wanderten wir gemeinsam durch Gateway. Wir gingen nicht oft in die ›Blaue Hölle‹ oder in die Holofilm-Säle, wir aßen nicht einmal zusammen auswärts. Klara tat das allein. Ich konnte es mir nicht leisten, also nahm ich meine meisten Mahlzeiten in den Refektorien der Gesellschaft ein. Sie waren im Preis meiner täglichen Kopfsteuer enthalten. Klara wäre nicht abgeneigt gewesen, für uns beide zu bezahlen, aber sie legte auch keinen übergroßen Wert darauf – sie spielte ziemlich oft und gewann kaum. Es gab Gruppen, denen man sich anschließen konnte – Kartenpartys oder einfach Partys; Volkstanzgruppen; Gruppen, die Musik hörten oder diskutierten. Das kostete nichts und war manchmal interessant. Oder wir unternahmen einfach Erkundungsgänge.
FLUGBERICHT
Fahrzeug 5–2, Flug 08D33. Besatzung L. Konieczny, E. Konieczny, F. Ito, F. Lounsbury, A. Akaga.
Transitzeit hinaus 27 Tage, 16 Stunden. Primärstern nicht identifiziert, Wahrscheinlichkeit für Stern in Haufen 47 Tucanae jedoch hoch.
ZUSAMMENFASSUNG. ›Traten im freien Fall heraus. Kein Planet in der Nähe. Primärstern A 6, sehr hell und heiß, Entfernung etwa 3,3 AE.
Als wir den Primärstern abdeckten, bot sich uns ein herrlicher Blick auf, wie es schien, zwei- oder dreihundert nahe grelle Sterne, scheinbare Größe zwischen 2 und – 7. Artefakte, Signale, Planeten oder landefähige Asteroiden waren jedoch nicht festzustellen. Wegen der intensiven Strahlung des A 6-Sterns konnten wir nur drei Stunden auf Station bleiben. Larry und Evelyn Konieczny wurden auf dem Rückflug infolge mutmaßlicher Strahlenverseuchung ernsthaft krank, erholten sich aber wieder. Keine Artefakte oder Proben gesichert.‹
Mehrmals besuchten wir das Museum. So besonders gefiel es mir gar nicht. Es wirkte … nun, vorwurfsvoll.
Das erste Mal gingen wir hin, gleich nachdem ich die Arbeit geschwänzt hatte, an dem Tag, als Willa Forehand ihre Reise antrat. Gewöhnlich war das Museum voller Besucher, Besatzungsmitglieder von den Kreuzern, Schiffsbesatzungen von den Frachtern oder Touristen. Diesmal waren aus irgendeinem Grund nur ein paar Leute da, und wir hatten Gelegenheit, uns alles anzusehen. Gebetsfächer zu hunderten, diese dünnen, kleinen Kristallgegenstände, die häufigsten Hitschi-Artefakte; niemand wusste, wozu sie dienten, außer, dass sie hübsch waren, aber die Hitschi hatten sie überall zurückgelassen. Da war die anisokinetische Originalpunze, die einem glücklichen Prospektor schon an die zwanzig Millionen Dollar an Tantiemen eingebracht hatte. Ein Ding, das man in die Tasche stecken konnte. Pelze. Pflanzen in Formalin. Das Original-Piezophon, das drei Schiffsbesatzungen so viel eingebracht hatte, dass jeder Einzelne davon stinkreich geworden war.
Was man als diebstahlgefährdet ansah, die Gebetsfächer, die Blutdiamanten und die Feuerperlen, befand sich hinter Panzerglas. Ich glaube, sie waren sogar an Alarmanlagen angeschlossen. Auf Gateway eigentlich überraschend. Es gibt dort kein Gesetz, außer dem, was die Gesellschaft festlegt. Es gibt eine Polizei, und es gibt Regeln – man soll nicht stehlen oder einen Mord begehen –, aber keine Gerichte. Wenn man gegen eine Regel verstößt, wird man von den Sicherheitskräften der Gesellschaft festgenommen und zu einem der Kreuzer in den Umlaufbahnen gebracht. Auf den der eigenen Nation, falls man einer Nation angehört, die einen der Kreuzer stellt, im anderen Fall auf irgendeinen beliebigen. Aber wenn man nicht aufgenommen wird oder nicht auf das Schiff der eigenen Nation will und ein anderes Schiff dazu bewegen kann, einen aufzunehmen, ist das der Gesellschaft gleichgültig. Auf den Kreuzern wird einem der Prozess gemacht. Da von Anfang an feststeht, dass man schuldig ist, hat man drei Möglichkeiten. Man kann seinen Rückflug bezahlen. Man kann als Besatzungsmitglied anheuern, wenn sie einen nehmen. Und man kann ohne Druckanzug zur Schleuse hinausgehen. Man sieht also, dass es zwar wenig Gesetz auf Gateway gibt, aber auch wenige Verbrechen.
Der Grund dafür, dass die kostbaren Gegenstände im Museum weggeschlossen wurden, war der, dass Durchreisende in Versuchung kommen konnten, das eine oder andere Souvenir mitzunehmen.
So standen Klara und ich sinnend vor den Schätzen, die irgendjemand gefunden hatte … und sprachen nicht darüber, dass wir eigentlich selbst hinausgehen und mehr davon finden sollten.
Es waren nicht nur die Ausstellungsstücke. Sie waren faszinierend – Gegenstände, die Hitschi-Hände (Tentakel? Klauen?) hergestellt und berührt hatten –, und sie stammten von unvorstellbaren Orten, unfassbar weit entfernten. Was mich noch mehr in Bann schlug, waren die Bildschirmprogramme. Zusammenfassungen von allen je gestarteten Expeditionen, eine nach der anderen. Eine laufende Gegenüberstellung von Starts und zurückgekehrten Schiffen; die Liste der Pechvögel, Name um Name an einer ganzen Wand des Saales, über den Vitrinen. Die Zahlen sagten genug: 2355 Starts (vor unseren Augen wurden daraus 2356, dann 2357; wir spürten die Vibration), 841 erfolgreiche Rückflüge.
Die Bezeichnung ›erfolgreich‹ war allerdings ziemlich vage. Es hieß, dass das Schiff zurückgekommen war. Es wurde nicht erwähnt, wie viele Besatzungsmitglieder noch lebten und gesund waren.
Klara und ich sagten kein Wort, als wir davor standen; wir sahen uns nicht an, aber ich spürte, wie sie meine Hand drückte.
Danach verließen wir das Museum und sagten auch auf dem Rückweg zum Aufwärts-Schacht nicht viel.
In meinem Inneren wusste ich, dass Emma Fother Recht gehabt hatte: Die Menschheit brauchte, was wir Prospektoren ihr geben konnten. Brauchte es dringend. Es gab hungernde Menschen, und die Hitschi-Technologie konnte ihr Leben erträglicher gestalten, wenn Prospektoren hinausflogen und Proben zurückbrachten.
Selbst wenn das ein paar Menschenleben kostete.
Selbst wenn Klara und ich unter den Opfern waren. Wünschte ich, so fragte ich mich, dass mein Sohn – falls ich jemals einen Sohn haben sollte – seine Kindheit so zubringen muss, wie ich die meine?
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