»Ein Unfall«, gab ich an.
»Nein. Leider kein Unfall. Wenn es ein Unfall gewesen wäre, hätte sich die Stadtpolizei damit zu befassen, nicht ich. So muss ich Sie aber um Ihre Mithilfe bitten.«
Ich wollte ihn in die Schranken weisen, daher sagte ich: »Unsere Zeit ist zu kostbar, um sie mit solch einer Lappalie zu vergeuden.«
Er ließ sich aber nicht zurechtweisen. »Ihr Leben ist noch kostbarer.«
»Nun machen Sie mal halblang! Einer der Soldaten in der Parade wirbelte sein Gewehr. Das war geladen, und ein Schuss ging los!«
»Mijnheer Broadhead«, belehrte er mich. »Erstens, keiner der Soldaten hatte sein Gewehr mit scharfer Munition geladen. Außerdem haben die Gewehre keine Schlagbolzen. Zweitens, die Soldaten sind gar keine Soldaten, sondern Studenten, die man für die Paraden in Kostüme steckt, wie die Wachen am Buckingham Palace. Drittens, der Schuss kam nicht aus der Parade.«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil man die Waffe gefunden hat.« Er sah wütend aus. »In einem Polizeispind! Das ist mir außerordentlich peinlich, Mijnheer, wie Sie sich vorstellen können. Für die Parade hatte man eine Menge zusätzlicher Polizisten zusammengezogen. Sie benutzten einen Umkleidewagen. Der ›Polizist‹, der den Schuss abgefeuert hat, war den anderen in der Einheit nicht bekannt. Aber sie kamen aus allen möglichen Abteilungen. Da er nach der Parade schnell verschwinden wollte, zog er sich um und ließ in der Eile beim Weggehen die Tür des Spinds offen. Darin waren lediglich die Uniform – gestohlen, nehme ich an –, das Gewehr und ein Foto von Ihnen. Nicht von Mevrouw. Von Ihnen.«
Er lehnte sich zurück und wartete. Das nette Jungengesicht war friedlich.
Das war ich aber nicht. Es dauerte eine Minute, bis mein Verstand diese Eröffnung akzeptierte, dass jemand die feste Absicht hatte, mich umzulegen. Es jagte mir Angst ein. Die Vorstellung des Sterbens ist schon schrecklich genug, wie ich aufgrund meiner unvergessenen und sogar mehrmaligen Erfahrung bestätigen kann, wenn es so aussah, als stünde der Tod schon hinter einem. Der Gedanke, ermordet zu werden, war noch viel schlimmer. Ich sagte: »Wissen Sie, wie ich mir jetzt vorkomme? Schuldig! Ich muss doch irgendetwas getan haben, weswegen mich jemand so hasst.«
»Ganz genau, Mijnheer Broadhead. Was könnte das Ihrer Meinung nach gewesen sein?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich nehme an, wenn Sie den Mann gefunden haben, werden Sie auch den Grund herausbekommen. Das sollte doch nicht so schwierig sein – es muss doch Fingerabdrücke geben oder sonst etwas. Ich sah die Kameras des Nachrichtenteams. Vielleicht ist jemand auf einem Film zu erkennen …«
Er seufzte. »Mijnheer, bitte, belehren Sie mich nicht, wie ich die polizeilichen Untersuchungen durchzuführen habe. Selbstverständlich gehen wir diesen Dingen nach, wir führen lange Vernehmungen aller Personen durch, die den Mann gesehen haben könnten; außerdem eine Schweißanalyse der Kleidung sowie alle anderen Möglichkeiten zur Identifizierung. Ich nehme an, dass der Mann ein Profi ist. Deshalb werden diese Methoden nicht zum Erfolg führen. Wir müssen es aus einer anderen Richtung angehen. Wer sind Ihre Feinde, und was machen Sie in Rotterdam?«
»Ich glaube nicht, dass ich Feinde habe. Konkurrenten im Geschäft, vielleicht, aber die bringen keine Leute um.«
Er wartete geduldig, daher fügte ich hinzu: »Und was meine Anwesenheit in Rotterdam betrifft – der Grund ist, glaube ich, allgemein bekannt. Meine Geschäftsinteressen schließen auch ein paar Aktien bei der Auswertung einiger Hitschi-Artefakte ein.«
»Das ist bekannt«, bemerkte er, nicht mehr so geduldig.
Ich zuckte mit den Achseln. »Ich bin als Partei bei dem Prozess am Internationalen Gerichtshof beteiligt.«
Der Commissaire öffnete eine der Schreibtischschubladen, schaute hinein und schob sie missmutig wieder zu. »Mijnheer Broadhead«, fuhr er fort. »Sie haben sehr viele Besprechungen hier in Rotterdam geführt, die mit diesem Prozess nichts zu tun hatten, sondern mit der Frage des Terrorismus. Sie wollen diese Bedrohung beenden.«
»Das wollen wir alle«, ergänzte ich; aber das Gefühl in meinem Magen kam nicht nur von den kaputten Därmen. Ich hatte gedacht, dass ich sehr diskret gearbeitet hatte.
»Wir wollen es alle. Aber Sie tun etwas, Mijnheer. Daher glaube ich, dass Sie sehr wohl Feinde haben. Die Feinde von uns allen. Die Terroristen.« Er stand auf und brachte uns zur Tür. »Während Sie meiner Zuständigkeit unterstehen, werde ich Ihnen Polizeischutz geben. Danach kann ich Sie nur zu größter Vorsicht auffordern. Ich glaube, dass Ihnen von denen Gefahr droht.«
»Jeder ist in Gefahr«, sagte ich.
»Es kann jeden zufällig treffen, stimmt; aber Sie sind jetzt ein besonderer Fall.«
Unser Hotel war noch in den Zeiten gebaut worden, als die Ölscheichs mit den dicken Brieftaschen und der Jet-Set als Touristen herkamen. Die besten Suiten waren so eingerichtet, dass es ihrem Geschmack entsprach. Der deckte sich aber nicht mit unserem. Weder Essie noch ich waren über Strohmatten und Holzblöcke als Kopfkissen begeistert. Die Hotelleitung ließ das aber alles wegbringen und stellte uns ein richtiges Bett herein, rund und riesig. Ich freute mich schon darauf, es möglichst häufig zu benützen. Nicht so die Hotelhalle, deren Ausstattung ich einfach scheußlich fand: freitragende Aufgänge, mehr Brunnen als in Versailles und so viele Spiegel, dass man sich beim Hinaufschauen wie im äußeren All vorkam. Durch die guten Beziehungen des Commissaire – oder einen anderen günstigen Umstand – blieb uns dieser Anblick erspart. Die junge Polizistin, die uns nach Hause geleitete, führte uns durch den Hintereingang. Wir sausten in einem gepolsterten Lift, der nach Essen roch, nach oben in unser Stockwerk, wo sich die Dekoration etwas verändert hatte. Genau gegenüber dem Eingang zu unserer Suite stand eine geflügelte Venus auf dem Flur. Jetzt hatte sie einen Gefährten in einem blauen Anzug bekommen, einen ganz unauffällig wirkenden Mann, der sich größte Mühe gab, mir nicht ins Gesicht zu sehen. Ich schaute auf die Polizistin, die uns begleitete.
Sie lächelte verlegen und nickte ihrem Kollegen zu. Dann schloss sie die Tür hinter uns.
Wir waren ein Sonderfall; das stand fest.
Ich setzte mich und betrachtete Essie. Ihre Nase war immer noch etwas geschwollen, schien ihr aber keine Schwierigkeiten zu machen. Dennoch. »Vielleicht solltest du ins Bett gehen«, schlug ich vor.
Sie sah mich mit nachsichtiger Zuneigung an. »Wegen einer blutigen Nase, Robin? Wie dumm du bist! Oder hast du etwas Besonderes im Auge?«
Ich muss meiner lieben Frau alle Achtung aussprechen. Sobald sie das Thema anschnitt, kam ich trotz meines ruinierten Tages und meiner ruinierten Eingeweide auf andere Gedanken. Nach fünfundzwanzig Jahren hätte man meinen können, dass Sex langweilig würde. Mein Datensammelfreund Albert hatte mir über Experimente mit Tieren im Labor erzählt, die bewiesen, dass das unausbleiblich war. Männliche Ratten wurden bei ihren Partnern gelassen, dann maß man die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs. Mit der Zeit nahm sie immer mehr ab. Langeweile. Dann nahm man die alten Partner heraus und gab ihnen neue. Die Ratten wurden sofort munter und waren eifrig bei der Sache. Damit war diese Tatsache wissenschaftlich bewiesen – bei Ratten. Ich halte mich aber, jedenfalls nicht in dieser Beziehung, für eine Ratte. Nein, mir machte die Sache ausgesprochen Freude. Da stieß mir jemand ohne Vorwarnung einen Dolch in den Bauch.
Ich konnte nicht anders. Ich schrie.
Essie schob mich beiseite. Sie setzte sich schnell auf und rief Albert auf Russisch herbei. Gehorsam erwachte das Hologramm zum Leben. Er warf einen Blick auf mich und nickte. »Ja«, sagte er. »Bitte, Mrs. Broadhead, halten Sie Robins Handgelenk gegen den Verteiler am Nachttisch.«
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