Es war schwer zu sagen, ob ich Fortschritte erzielte. Um halb eins meldete sich jedoch mein Bauch und machte mir klar, dass er sehr unangenehm würde, falls ich nicht schleunigst etwas Nahrung in ihn stopfte. Also ließ ich es für heute gut sein. Sehnsüchtig dachte ich an unsere hübsche, ruhige Hotelsuite mit einem zarten Steak vom Zimmerservice, wo ich meine Schuhe hätte ausziehen können. Aber ich hatte Essie versprochen, sie in ihrer Geschäftsstelle zu treffen. Ich bat Albert zu überschlagen, was ich erreicht hatte, und Empfehlungen für die nächsten Schritte auszuarbeiten. Dann kämpfte ich mich zu einem Taxi durch.
Essies Schnellrestaurants sind nicht zu übersehen. Die leuchtenden blauen Bogen aus Hitschi-Metall stehen in fast jedem Land der Welt. Als Chefin hatte sie für uns auf einem Balkon eine mit Seilen abgesperrte Ecke reservieren lassen.
Als ich die Treppe hinaufging, kam sie mir mit einem Kuss, gerunzelter Stirn und einem Problem entgegen. »Robin! Stell dir vor! Die wollen hier Mayonnaise zu den Pommes frites servieren. Soll ich das erlauben?«
Ich erwiderte ihren Kuss, schaute dabei aber über ihre Schulter, um zu sehen, welch schauderhaften Fraß man uns serviert hatte. »Das musst du wissen«, entgegnete ich.
»Ja, natürlich, es muss meine Entscheidung sein. Aber es ist wichtig, Robin! Habe mir große Mühe gegeben, echte Pommes frites exakt zu kopieren, du weißt! Und jetzt Mayonnaise?« Dann trat sie einen Schritt zurück und musterte mich genauer. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. »So müde! So viele Falten im Gesicht, Robin! Wie fühlst du dich?«
Ich schenkte ihr mein bezauberndstes Lächeln. »Nur hungrig, Liebling«, rief ich und betrachtete mit falschem Entzücken die Teller vor mir. »Sag mal, das sieht gut aus! Was ist es, Tacos?«
»Das sind Chapatti 2«, erklärte sie mir stolz. »Tacos sind hier drüben. Auch Blini. Versuche, ob du sie magst.« Ich musste natürlich alles probieren. Es war keineswegs das, wonach mein Bauch verlangt hatte. Die Tacos, die Chapatti, die Reisbällchen mit saurer Fischsauce und das Zeug, das so ähnlich wie gekochte Gerste schmeckte. Nichts davon war nach meinem Geschmack. Aber es war essbar.
Es handelte sich auch um Geschenke der Hitschi. Sie hatten uns die bedeutsame Einsicht hinterlassen, dass das meiste lebende Gewebe (auch meines und Ihres) nur aus vier Elementen besteht: Kohlenstoff (C), Wasserstoff (H), Sauerstoff (O) und Stickstoff (N) – CHON – CHON-Nahrung. Da auch der größte Teil der Kometen aus diesen Gasen besteht, bauten sie ihre Nahrungsfabriken draußen in der Oort’schen Wolke, wo die Kometen unserer Sonne hängen und darauf warten, dass sie ein Stern losschüttelt und als hübsches Naturschauspiel über unseren Himmel schickt.
CHON ist aber nicht alles. Man braucht noch weitere Elemente. Am wichtigsten ist Schwefel, dann Natrium, Magnesium, Phosphor, Chlor, Kalium, Kalzium – abgesehen von der Prise Kobalt, um Vitamin B-12 herzustellen, Chrom zur Glukosetoleranz, Jod für die Schilddrüse, Lithium, Fluor, Arsen, Selen, Molybdän, Kadmium und – weil es schon egal ist, auch Zinn. Man braucht Spuren der Elemente aus dem gesamten Periodensystem. Nur sind die Mengen der Elemente so winzig, dass man sie nicht eigens in die Suppe tun muss. Sie sind als Verunreinigungen von ganz allein vorhanden. Essies Nahrungschemiker kochten größere Mengen von leckerem Allerlei und produzierten so Nahrung für alle – nicht nur Speisen zum Überleben, sondern auch das, was die Leute gern aßen, daher die Chapatti und Reisbällchen also. Aus CHON-Nahrung kann man alles machen, man muss nur tüchtig umrühren. Essie machte unter anderem einen Haufen Geld damit. Wie sich herausstellte, war das ein Spiel, das ihr Spaß machte.
Endlich hatte ich etwas gefunden, dem sich mein Magen nicht widersetzte – es sah wie ein Hamburger aus und schmeckte wie Avocado-Salat mit Speckstückchen. Essie hatte es Big Chon genannt. Sie saß keine Minute lang still, sondern überprüfte die Temperatur der infraroten Wärmelampen, suchte nach Fett unter den Geschirrspülmaschinen, probierte die Nachtische und schlug einen Mordskrach, weil die Milch-Shakes zu dünn waren.
Essie hatte mir ehrenwörtlich versichert, dass keines ihrer Produkte jemandem schaden könnte. Mein Magen jedoch vertraute ihrem Wort weniger als ich. Mich störte der Lärm draußen auf der Straße – war das die Parade? –, aber sonst fühlte ich mich fast so wohl, wie es eben möglich war. Ich konnte es genießen, dass wir die Rollen getauscht hatten. Wenn Essie und ich uns in der Öffentlichkeit zeigen, bin ich es für gewöhnlich, den die Leute anstarren. Nicht hier. Nicht in Essies Restaurantkette. Hier war Essie der Star. Draußen stellten sich die Passanten auf, um die Parade anzuschauen. Drinnen warfen die Angestellten keinen Blick darauf. Sie gingen mit angespannten Rückenmuskeln ihrer Arbeit nach. Riskierte mal einer einen verstohlenen Blick, dann nur auf die mächtige Chefin, den Lady-Boss. Oft benahm sie sich nicht sehr ladylike. Essie hatte zwar ein Vierteljahrhundert lang Unterricht in Englisch bekommen, von einem Experten – von mir –, aber wenn sie sich aufregt, tönt es laut »Nekulturnyj« und »Chuligan!« 3
Ich wechselte zum Fenster im ersten Stock, um mir die Parade anzusehen. In Zehnerreihen marschierten sie die Weena mit Musik und Plakaten hinunter. Lästig und störend! Vielleicht noch schlimmer. Auf der anderen Straßenseite kam es vor dem Bahnhof zu einem Zusammenstoß zwischen Polizisten und Demonstranten. Aufrüster und Pazifisten waren sich in die Haare geraten. Man konnte sie nur schlecht auseinander halten, weil sie mit ihren Plakaten aufeinander einschlugen. Essie setzte sich zu mir. Sie nahm ihren Big Chon, warf einen Blick hinaus und schüttelte den Kopf. »Wie ist das Sandwich?«, fragte sie.
»Gut«, lobte ich, den Mund voll von Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff und Spurenelementen. Sie warf mir einen Rede-lauter-Blick zu. »Ich sagte, gut!«, wiederholte ich lauter.
»Ich kann dich nicht verstehen bei dem Lärm«, beschwerte sie sich und leckte sich die Lippen – ihr schmeckte, was sie verkaufte.
Ich deutete mit dem Kopf zur Parade. »Ich weiß nicht, ob das gut ist«, bemerkte ich.
»Ich glaube nicht«, stimmte sie mir bei und blickte mit Abscheu auf eine Gruppe, die man, soviel ich wusste, Zuaven nennt – dunkelhäutige Marschierer in Uniform. Ich konnte die Nationalabzeichen nicht erkennen, aber jeder trug ein Schnellfeuergewehr und führte damit alle möglichen Kunststücke vor: wirbeln, mit dem Kolben auf das Pflaster schlagen, sodass das Gewehr wieder nach oben in die Hand zurückschnellte, und das alles, ohne aus dem Gleichschritt zu geraten.
»Vielleicht sollten wir uns lieber zurück ins Gericht begeben«, schlug ich vor.
Sie nahm noch die letzten Krümel meines Sandwichs auf. Manche russischen Frauen gehen auseinander und werden zu Fettkugeln, wenn sie über vierzig sind; manche trocknen ein. Nicht aber Essie. Sie hatte immer noch die schlanke Taille und den geraden Rücken, die meinen Blick beim ersten Mal gefesselt hatten. »Vielleicht sollten wir«, meinte sie und sammelte ihre Computerprogramme zusammen, jedes auf einem eigenen Datenfächer. »Habe als Kind genug Uniformen gesehen, bin nicht gerade scharf darauf, sie alle hier präsentiert zu bekommen.«
»Du kannst aber keine Parade ohne Uniformen abhalten.«
»Nicht nur bei der Parade. Schau! Auf den Bürgersteigen auch.« Es stimmte. Fast jede vierte Person trug eine Art Uniform. Das war für mich überraschend. Ich hatte es vorher nicht bemerkt. Natürlich hatte jedes Land schon seit eh und je Truppen unterhalten. Man hatte sie aber wie einen Feuerlöscher zu Hause in einem Wandschrank verstaut. Man sah sie eigentlich nie. Aber jetzt zeigten sie sich immer mehr.
»Schön«, sagte sie und wischte sorgfältig die CHON-Krümel vom Tisch auf einen Wegwerfteller. Dann sah sie sich nach dem Mülleimer um. »Du musst sein sehr müde. Wir gehen. Bitte, dein Abfall!«
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