Wie sich ergab, war das nicht sehr taktvoll gewesen, da Walthers mir sogleich erzählte, dass sie sich tatsächlich unter dem Einfluss des TPSE der Terroristen geprügelt hatten. Dann unterhielten wir uns eine Zeit lang über die Terroristen. Danach beklagten wir die traurige Lage, in die sich die menschliche Rasse gebracht hatte. Es war nicht gerade eine aufmunternde Unterhaltung, besonders nicht, als Essie sich entschloss, philosophisch zu werden.
»Was ist das menschliche Wesen doch für ein verkommenes Ding«, fing sie an, nahm das jedoch wieder zurück. »Nein! Ich bin ungerecht. Ein menschliches Wesen kann sehr gut sein, sogar so fein wie wir vier hier. Nicht perfekt, aber statistisch gesehen kann man sagen, dass von hundert Chancen, Freundlichkeit, Nächstenliebe und Anständigkeit zu zeigen – Eigenschaften, die wir Menschen hoch schätzen –, weniger als fünfundzwanzig davon wahrgenommen werden. Aber Nationen? Politische Gruppen? Terroristen?« Sie schüttelte den Kopf. »Von hundert Chancen – null!«, behauptete sie. »Oder vielleicht eine, aber dann – du kannst sicher sein – mit Tricks im Ärmel. Schlechtigkeit ist additiv. Vielleicht ist nur ein Gramm in jedem Menschen vorhanden. Aber addiere mal die Summe von, sagen wir, zehn Millionen Menschen, in einem kleinen Land oder einer Gruppe, dann kommt genug Böses heraus, um die ganze Welt zu zerstören!«
»Ich wäre jetzt für den Nachtisch bereit«, wechselte ich das Thema und winkte den Kellnern.
Man sollte meinen, dass das nun wirklich ein Wink mit dem Zaunpfahl für jeden Gast war, vor allem nachdem sie wussten, was für einen scheußlichen Tag wir hinter uns hatten. Aber Walthers war hartnäckig. Er ließ sich beim Nachtisch unendlich Zeit. Er bestand darauf, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen, und schaute dauernd zu den Kellnern hin. Mir wurde immer ungemütlicher und nicht nur im Bauch.
Essie behauptet, ich hätte keine Geduld mit Leuten. Vielleicht stimmt’s. Am besten komme ich mit den Freunden aus, die Computerprogramme sind und nicht aus Fleisch und Blut bestehen. Sie haben auch keine Gefühle, die man verletzen kann – naja, ich bin mir nicht sicher, ob das auch auf Albert zutrifft. Aber mit Sicherheit auf mein Sekretariatsprogramm und meinen Küchenchef. Es stimmte, dass ich mit Audee Walthers die Geduld verlor. Sein Leben war eine langweilige Schnulze gewesen. Er hatte seine Frau und seine Ersparnisse verloren. Er hatte unbefugt Geräte an Bord der S. Ya. benutzt, wobei Yee-xing ihm geholfen hatte. Dafür waren sie rausgeworfen worden. Er hatte den letzten Pfennig ausgegeben, um nach Rotterdam zu kommen. Der Grund war unklar. Es hatte aber eindeutig etwas mit mir zu tun.
Nun, ich bin ja gern bereit, einem Freund, den das Glück verlassen hat, Geld zu »leihen«. Aber heute war ich nicht in Stimmung. Es war nicht nur die Sorge um Essie oder der ganze verkorkste Tag oder die nagende Angst, ob der nächste Irre mit einem Gewehr mich erwischen würde. Es war mein verdammter Bauch, der mir zusetzte. Schließlich befahl ich den Kellnern abzutragen, obwohl Walthers noch immer über seiner vierten Tasse Kaffee hockte. Dann stampfte ich hinüber zu dem Tisch mit den Likören und Zigarren. Auf dem Weg dorthin funkelte ich ihn wütend an. »Was ist los, Audee?«, fragte ich keineswegs mehr höflich. »Geld? Wie viel brauchst du?«
Er warf mir einen vernichtenden Blick zu! Dann zögerte er und wartete, bis auch der letzte Kellner durch den Anrichteraum verschwunden war. Dann kam es knüppeldick. »Das brauch’ ich wirklich nicht«, betonte er mit zitternder Stimme. »Es geht darum, wie viel du für etwas ausgeben möchtest, das du haben willst. Du bist ein schwerreicher Mann, Broadhead. Vielleicht zerbrichst du dir nicht den Kopf über Leute, die für dich ihren Arsch in die Spalte stecken. Ich habe diesen Fehler zweimal begangen.«
Ich mag es gar nicht, wenn man mich daran erinnert, dass ich jemandem etwas schulde. Aber ehe ich etwas antworten konnte, hatte Janie Yee-xing die Hand auf sein schlimmes Handgelenk gelegt – vorsichtig. »Sag ihm nur, was du hast!«, forderte sie ihn auf.
»Sag mir was?«, wollte ich wissen. Der Saukerl zuckte nur mit den Schultern und eröffnete mir auf die Art, wie man jemandem etwa beiläufig mitteilt, dass man die Autoschlüssel auf dem Teppich gefunden hat: »Naja, wollte dich nur in Kenntnis setzen, dass ich etwas gefunden habe, was meiner Meinung nach ein echter, lebendiger Hitschi ist.«

Ich habe einen Hitschi gefunden … ich habe ein Stück vom Kreuz Jesu gefunden … ich habe mit Gott gesprochen, direkt mit ihm – diese Behauptungen gehören alle in dieselbe Kategorie. Man glaubt sie zwar nicht, aber sie jagen einem doch Angst ein. Und wenn man dann feststellt, dass sie stimmen, oder dass man nicht sicher sein kann, dass sie nicht stimmen – dann ist es Zeit für Wunder und Zeit, sich zu Tode zu fürchten. Gott und die Hitschi. Als ich ein Kind war, konnte ich die beiden nicht genau unterscheiden. Selbst als Erwachsener blieb noch Verwirrung.
Es war nach Mitternacht, als ich die beiden endlich gehen ließ. Bis dahin hatte ich sie leer gepumpt. Ich besaß den Datenfächer, den sie auf der S. Ya. hatten mitgehen lassen. Ich hatte Albert mit in die Diskussion gebracht, damit er alle Fragen stellen konnte, die sein fruchtbares digitales Gehirn erfinden konnte. Ich fühlte mich ziemlich elend und kaputt. Die Wirkung der Analgetica hatte längst nachgelassen. Trotzdem wollte ich nicht schlafen gehen. Essie verkündete mit fester Stimme, dass sie nicht aufbleiben würde, um sich das Schauspiel meines Todes anzusehen, da ich offensichtlich entschlossen sei, mich durch Überanstrengung umzubringen. Sobald sie ruhig auf der Couch dahinschnarchte, rief ich wieder Albert. »Ein finanzieller Punkt noch«, sagte ich. »Walthers behauptet, er habe den Bonus von einer Million Dollar ausgeschlagen, um seinen Fund mir zu geben. Transferiere, hm, sofort zwei Millionen auf sein Konto.«
»Selbstverständlich, Robin.« Albert Einstein wird niemals schläfrig. Wenn er aber andeuten will, dass es für mich längst Zeit ist, ins Bett zu gehen, ist er durchaus in der Lage, sich zu recken und zu gähnen. »Ich sollte dich aber darauf hinweisen, dass bei deinem Gesundheitszustand …«
Ich sagte ihm, wohin er sich meinen Gesundheitszustand stecken könne. Dann sagte ich ihm noch, was er mit seinem Vorschlag tun könne, mich morgen in ein Krankenhaus zu stecken. Liebenswürdig spreizte er die Hände. »Du bist der Boss, Robin«, bemerkte er bescheiden. »Trotzdem, ich hab’ mir so meine Gedanken gemacht.«
Es stimmt nicht, dass Albert Einstein keine Zeit mit Denken verbringt. Da sich seine Gedanken aber mit nuklearer Geschwindigkeit bewegen, ist diese Zeit für menschliche Wesen aus Fleisch und Blut, wie mich, nicht wahrnehmbar. Es sei denn, er möchte es, meist um eine dramatische Wirkung zu erzielen. »Spuck’s aus, Albert!«
Er zuckte mit den Schultern. »Es ist nur so, dass ich dich bei deinem bedenklichen Gesundheitszustand nicht grundlos aufregen will.«
»Grundlos! Mein Gott, Albert! Manchmal benimmst du dich wirklich wie eine dämliche Maschine. Gibt es einen triftigeren Grund als den, einen lebendigen Hitschi zu finden?«
»Ja«, sagte er und zog genüsslich an seiner Pfeife. Dann wechselte er das Thema. »Aus den Sonarmeldungen, die ich empfange, Robin, schließe ich, dass du starke Schmerzen hast.«
»Nein, was bist du doch für ein schlaues Kerlchen, Albert.« Tatsache war, dass die Rührmaschine in meinem Bauch einen anderen Gang eingelegt hatte. Jetzt machte ein Mixer aus meinen Eingeweiden Püree. Jede Drehung war ein eigener Schmerz.
»Soll ich Mrs. Broadhead wecken und ihr Bescheid geben?«
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