»Mensch! Das ist doch wie im Mittelalter!«
Sie nickte. »In der Regel finden wir etwas genau Passendes, aber nicht bei Essie. Nicht diesmal. Sie hat eine seltene Blutgruppe, so geht es schon an. Sie ist Russin, und ihr Typus ist in diesem Teil der Welt nicht häufig, sodass …«
»Dann besorgen Sie etwas aus Leningrad, Herrgott noch mal!«
»Sodass, wollte ich sagen, die Gewebebanken auf der ganzen Welt überprüft worden sind. Wir können nah herankommen. Ganz nah, aber in ihrem jetzigen Zustand besteht immer noch Gefahr.«
Ich sah sie prüfend an und versuchte dahinter zu kommen, was ihr Tonfall bedeutete.
»Gefahr, alles noch einmal machen zu müssen, meinen Sie?« Sie schüttelte ein wenig den Kopf. »Dass sie … dass sie stirbt? Das glaube ich Ihnen nicht! Wozu gibt es medizinischen Vollschutz, verdammt?«
»Robin … sie ist schon einmal gestorben, wissen Sie. Wir mussten sie wieder beleben. Es gibt eine Grenze für den Schock, den sie überstehen kann.«
»Dann zum Teufel mit der Operation! Sie haben gesagt, so sei der Zustand stabil!«
Wilma blickte kurz auf ihre im Schoß gefalteten Hände, dann sah sie mich an.
»Sie ist die Patientin, nicht Sie.«
»Was soll das heißen?«
»Es ist ihre Entscheidung. Sie hat schon entschieden, dass sie nicht ewig an ein Lebenserhaltungsgerät angeschlossen sein will. Wir fangen morgen früh wieder an.«
Ich saß da und starrte in den Tank, lange, nachdem Wilma Liederman verschwunden und mein geduldiges Sekretariatsprogramm wieder aufgetaucht war und stumm auf Anweisungen wartete.
»Äh, Harriet«, sagte ich schließlich, »ich möchte heute Abend zurückfliegen.«
»Ja, Robin«, erwiderte sie. »Ich habe schon reservieren lassen. Es gibt heute Abend keinen Direktflug, aber Sie können in Caracas umsteigen und sind gegen fünf Uhr früh in New York. Die Operation beginnt nicht vor acht Uhr.«
»Danke.« Sie verstummte wieder und wartete. Mortons albernes Gesicht befand sich auch immer noch im Tank, winzig und vorwurfsvoll unten in der rechten Ecke. Er sagte nichts, aber ab und zu räusperte er sich oder schluckte, um mir zu zeigen, dass er wartete. »Morton«, sagte ich, »habe ich dich nicht gebeten zu verschwinden?«
»Das kann ich nicht, Robin. Nicht, solange ich vor einem unlösbaren Dilemma stehe. Sie haben Anweisungen bezüglich Mr. Bover gegeben …«
»Und ob! Wenn ich so nicht mit ihm fertig werde, lasse ich ihn vielleicht einfach umbringen.«
»Sie brauchen sich keine Mühe zu geben«, sagte Morton rasch. »Seine Anwälte haben sich gemeldet. Er hat beschlossen, Ihr Angebot anzunehmen.«
Ich glotzte ihn an, die Augen groß, den Mund weit aufgerissen.
»Ich verstehe es auch nicht, Robin, so wenig wie seine Anwälte«, sagte er schnell. »Sie sind ganz durcheinander. Aber es ist eine persönliche Mitteilung für Sie dabei, falls die etwas erklärt.«
»Nämlich?«
»Zitat: ›Vielleicht versteht er doch‹, Zitat Ende.«
In einem etwas verwirrenden Leben hatte ich viele verwirrende Tage erlebt, aber dieser war ein ganz besonderer. Ich ließ heißes Wasser in die Wanne laufen und legte mich eine halbe Stunde hinein, bemüht, alle Gedanken zu verbannen. Der Versuch brachte aber keine innere Ruhe.
Bis zum Start der Maschine nach Caracas hatte ich drei Stunden Zeit. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Es war nicht so, dass ich nichts zu tun gehabt hätte. Harriet versuchte immer wieder, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Morton wollte den Vertrag mit Bover fixieren, Albert die Bioanalyse der Hitschi-Ausscheidungen besprechen, die irgendjemand eingesammelt hatte. Jeder wollte mit mir sprechen, und zwar über alles. Ich wollte nichts von alledem wissen. Ich blieb in meiner Zeitdehnung stecken und sah die Welt vorüberkriechen. Ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte. Es war schön, dass Bover glaubte, ich verstünde vielleicht. Ich fragte mich, wie er es anstellen würde, mir zu erklären, was ich verstand.
Nach einiger Zeit gelang es mir, so viel Energie aufzubringen, dass ich Harriet einige der entscheidungsreifen Anrufe durchstellen ließ, und ich traf an Entscheidungen, was notwendig erschien; danach hörte ich mir, während ich mit einer Schale Cracker mit Milch herumlöffelte, eine zusammenfassende Nachrichtensendung an. Es war viel die Rede von der Gefangennahme der Herter-Halls, und das konnte ich von Albert alles viel genauer erfahren als von den PV-Sprechern.
Dabei fiel mir ein, dass Albert mit mir hatte sprechen wollen, sodass ich mich vorübergehend wohler fühlte. Das gab meinem Dasein Sinn und Zweck. Ich hatte jemanden, den ich anfahren konnte.
»Schwachkopf«, fauchte ich, als er auftauchte. »Magnetbänder sind ein Jahrhundert alt. Wieso kannst du sie nicht lesen?«
Er blickte mich unter seinen buschigen weißen Brauen hervor ruhig an.
»Sie beziehen sich auf die so genannten ›Gebetsfächer‹, Robin, nicht? Natürlich haben wir das versucht, sehr oft sogar. Wir vermuteten sogar, es könnte eine Synergie vorliegen; aus diesem Grund versuchten wir es mit verschiedenen Arten von Magnetfeldern zugleich, stetig und oszillierend, mit unterschiedlicher Geschwindigkeit oszillierend. Wir versuchten es sogar mit simultaner Mikrowellenstrahlung, obschon, wie sich herausstellte, mit der falschen Art …«
Ich war immer noch in Gedanken versunken, aber nicht so stark, dass ich die Folgerung nicht erkannt hätte.
»Soll das heißen, es gibt eine richtige? «
»Klare Sache, Robin.« Er grinste. »Als wir von den Instrumentenmessungen der Herter-Halls eine genaue Aufzeichnung hatten, kopierten wir sie einfach. Dieselbe Mikrowellenstrahlung, die in der Nahrungsfabrik vorhanden ist, ein Strom von wenigen Mikrowatt einer elliptisch polarisierten Mikrowelle mit einer Million Å. Und dann erhalten wir das Signal.«
»Enorm, Albert! Und was habt ihr dann?«
»Hm, tja«, sagte er, während er nach seiner Pfeife griff, »eigentlich noch nicht viel. Es ist hologrammgespeichert und zeitabhängig, sodass wir eine Art zuckender Wolke von Symbolen erhalten. Und natürlich können wir keines der Symbole lesen. Es ist Hitschi-Sprache, wissen Sie. Aber jetzt handelt es sich nur noch um Kryptographie schlechthin, könnte man sagen. Alles, was wir brauchen, ist ein Stein von Rosette.«
»Wie lange?«
Er zog die Schultern hoch, breitete die Hände aus und zwinkerte.
Ich dachte kurz nach.
»Gut, bleib dran. Noch etwas. Ich möchte, dass du das Ganze in mein Anwaltsprogramm kopierst, die Mikrowellen, Frequenzen, technische Pläne, alles. Irgendwo sollte da ein Patent herausschauen, und das möchte ich haben.«
»Klare Sache, Robin. Hemm. Möchten Sie etwas von den Toten Menschen hören?«
»Was ist mit ihnen?«
»Tja«, sagte er, »nicht alle davon sind menschlich. In diesen Speicherschaltungen finden sich ein paar recht sonderbare Gemüter, Robin. Ich glaube, sie könnten das sein, was Sie die Alten nennen.«
In meinem Nacken prickelte es.
»Hitschi?«
»Nein, nein, Robin! Fast menschlich. Aber nicht ganz. Sie können mit der Sprache nicht gut umgehen, vor allem jene, die zu den frühesten zu gehören scheinen, und ich wette, Sie können nicht einmal erraten, was für eine Computerzeit-Rechnung Sie bekommen werden, für Analyse und den Versuch, Sinn in dem Gesagten zu entdecken.«
»Mein Gott! Essie wird staunen, wenn …« Ich verstummte. Einen Augenblick lang hatte ich Essie vergessen. »Na«, sagte ich, »das ist … interessant. Was gibt es noch?« Aber in Wahrheit war mir das gleichgültig. Ich hatte meinen letzten Schuss Adrenalin verbraucht, und mehr gab es einfach nicht.
Ich ließ mir von ihm den Rest seiner Informationen geben, aber das meiste erreichte mich nicht. Nach unseren Kenntnissen waren drei Angehörige der Herter-Halls gefangen genommen worden. Die Hitschi hatten sie an einen spindelförmigen Ort gebracht, wo alte Maschinen herumstanden. Die Kameras übermittelten weiterhin Einzelbilder von nicht sehr aufregendem Inhalt. Die Toten Menschen waren übergeschnappt und gaben überhaupt nichts Vernünftiges mehr von sich. Wo sich Paul Hall befand, wusste niemand. Vielleicht war er noch in Freiheit. Vielleicht lebte er noch. Die unverständliche Verbindung über Funk zwischen den Toten Menschen und der Nahrungsfabrik bestand noch, aber es war nicht klar, wie lange sie halten würde – oder ob sie uns irgendetwas mitteilen konnte. Es war überraschend, dass die Biochemie der Hitschi der menschlichen weniger unähnlich war, als man vermutet hätte. Ich ließ Albert reden, bis er nichts mehr wusste, dann beschäftigte ich mich wieder mit dem PV-Programm. Es brachte zwei Schnellsprech-Komiker, die einander Witze erzählten. Leider auf Portugiesisch. Egal. Ich hatte immer noch eine Stunde hinter mich zu bringen und ließ sie verrinnen. Wenn schon nichts anderes, konnte ich die hübsche Carioca bewundern, Fruchtsalat im Haar, deren knappes Kostüm die Komiker abrissen, wenn sie kichernd vor ihnen auf und ab ging.
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