Ich versuchte mir einzureden, dass es nur dieses Gefühl war, was zählte. Aber das stimmte natürlich nicht. Was ist, wenn überhaupt nichts Menschliches mehr in ihr ist, sagte eine innere Stimme zu mir. Ich wollte die innere Stimme übergehen. Aber sie ließ nicht ab. Sie war leise, aber eindringlich: Was ist, wenn dieses Etwas in ihr dich nur benutzt hat, wenn es dich die ganze Zeit gelenkt hat, einem geheimen Plan folgend, der dich genauso hat handeln lassen, wie sie es wollten.
Aber es war zu spät. Es war um Tage, um Wochen, vielleicht sogar um Monate zu spät, sich jetzt noch darüber Gedanken zu machen und nach dem Sinn des Ganzen zu fragen. Wenn es anders gelaufen wäre, wenn nicht Kimberley so tief in die Sache verstrickt wäre, dann hätte ich vielleicht irgendwann versuchen können, Augen und Ohren zu verschließen und mich aus der ganzen Sache herauszuhalten. Aber das ging nicht. Es war mein Kampf, meine Auseinandersetzung mit Mächten, die sich in mein Leben gedrängt hatten, und nicht umgedreht. Es war meine Zeit und mein Ort. Hier und jetzt musste es ausgetragen werden. Es spielte keine Rolle, dass ich mir nicht sicher sein konnte, was mit Kim los war; ich hatte beschlossen, für sie und mich zu kämpfen, und genau das würde ich bis zum letzten Atemzug tun.
Es dauerte einen Moment, bis ich zu ahnen begann, dass etwas mit meiner Wahrnehmung nicht stimmte, dass ich tief in mich hineingesackt war, ohne meine Umgebung überhaupt noch wahrzunehmen; es war Kim, die mich aus meiner Erstarrung befreite, indem sie mit Fäusten auf mich einhämmerte und auf mich einschrie: »John, um Gottes willen, tu doch etwas! Wir müssen hier weg!«
Erst da begriff ich, dass ich endlose Sekunden einfach stehen geblieben war, versunken in nutzlose Gedanken, die uns keinen Schritt weiterbringen würden. Ich erinnerte mich mit Grausen, wie Marcel kurz vor seinem Tod mit schreckensweiten Augen und Schaum vor dem Mund auf mich zugestolpert war. War ich jetzt an der Reihe?
»John, bitte!«
»Schon gut«, murmelte ich und schob ihre Hand beiseite. Mit meinen Augen schien etwas nicht zu stimmen, der ganze Raum drehte sich um mich.
»Dort entlang!«, schrie Kim. »Ich glaube, wir sind von dort gekommen!«
Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, dass Kim wissen konnte, wie wir hier rauskommen würden. Ich nickte dankbar. Es blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich auf sie zu verlassen. Und obwohl ich wusste, dass wir schleunigst hier weg mussten, obwohl hinter uns etwas explodierte und der dicke, graue Qualm uns bis hierher verfolgte und das Atmen zur Qual wurde, war es Kim, die mich mitzog, und nicht umgekehrt. Es war ihre Energie und Kraft, die mich vorwärts riss und mich automatisch meine Schritte beschleunigen ließ.
Die Wände schienen mir plötzlich gar nicht mehr so düster zu sein wie noch vor ein paar Minuten; bunte Farbkleckse rannen an ihnen herab und gaben dem Ganzen einen surrealen Anstrich. Was tat ich eigentlich hier? Warum lief ich in heller Aufregung durch diesen grässlichen Gang? Um vollkommen sinnlos im Kreis zu laufen, während sich mein Gehirn langsam zersetzte, aufgefressen wurde von einer Substanz, die ein paar verrückte Aliens hatten entwickeln lassen, um uns um Kopf und Kragen zu bringen?
Ich fing an zu keuchen. Je schneller man läuft, umso mehr Atemluft jagt auch durch den Körper und vielleicht lag es daran, dass sich die Wände nun in ständiger fließender Bewegung zu befinden schienen und um mich herum pulsierten wie die Haut einer Kobra, wenn sie ein Kaninchen verdaut. Irgendwo in einem Winkel meines Verstands flüsterte mir eine Stimme zu, dass es mit zu meiner Halluzination gehörte zu glauben, es wäre noch so etwas wie Rettung möglich: Was sollte der Unsinn? Tatsache war, dass ich schneller als mir lieb war die Kontrolle über mich verlor, dass ich meine Beine nur noch wie zwei entfernte Pumpenschwengel fühlte, während sich mein Brustkorb gleichzeitig ins Unermessliche auszudehnen schien. Aber das war nicht das Schlimmste.
Viel gefährlicher war, dass ich kaum noch wusste, was ich tat. Es war ähnlich und doch ganz anders als das Gefühl totaler Betrunkenheit – ähnlich, weil die Körpersteuerung und Wahrnehmung wie unter Alkohol eingeschränkt waren, und anders, weil meine Gefühle wie in einem Fesselballon aufstiegen, der zum Spielball kräftiger Windböen wird, hin und her geschleudert von Urgewalten, denen er nichts entgegenzusetzen hat. Es war auch anders als während des Gesprächs mit Steel, als alles immer enger und bedrückender wurde und ich das Gefühl gehabt hatte, zu ersticken. Eine ungeahnte Leichtigkeit hatte mich ergriffen und es hätte mich keineswegs gewundert, wenn meine Beine plötzlich den Kontakt zum Boden verloren hätten und ich schlicht und einfach abgehoben wäre.
Doch dann, wider Erwarten, tat sich vor uns etwas auf, was wie die Tür zu einem Treppenhaus wirkte. Kim riss die Tür auf und schob mich durch. »Reiß dich zusammen«, schrie sie mich an und es kam mir ungerecht vor, dass sie so ruppig mit mir umging nach allem, was ich für sie getan hatte.
»Nur einen Moment«, keuchte ich, während ich ihre helfende Hand wegschob und mich an die Wand des schmalen Treppenhauses lehnte. Ich spürte, wie sich meine Lungen mit abgestandener, verbrauchter und stinkender Luft füllten aber diesen Bereich schien die Lüftungsanlage nicht verpestet zu haben und die Zusammensetzung hier kam mir trotz aller Nachteile so verlockend vor wie kristallklare Bergluft. Schon nach fünf, sechs Atemzügen begannen sich meine Gedanken wieder zu klären. »Moment noch«, keuchte ich, als Kim wieder nach meinem Arm griff, um mich weiterzuziehen. »Ich bin gleich wieder bei mir.«
Kim runzelte die Stirn. »Wir müssen hier weg«, sagte sie leise. Ihre Stimme verriet, wie erschöpft sie war, und ich hätte ihr gerne gesagt, wie dankbar ich war, dass sie mich hierhin geführt hatte; ohne sie hätte ich es niemals geschafft. Aber ich war zu kraftlos für eine liebevolle Geste. Alles, was ich wollte, war weg – so schnell wie möglich und so weit wie möglich weg von diesem Wahnsinn.
»Über uns ist Majestic«, sagte ich mühsam. »Wir können uns da nicht so einfach rausschleichen. Wir brauchen einen Plan.«
»Nein, John«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Wir brauchen keinen Plan. Wir müssen weg von hier. Weil ich spüre, dass hier gleich etwas Furchtbares geschehen wird...«
»Steel?«
Sie schüttelte abermals den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber der Weg in die Freiheit führt über Majestic und glaub mir, Bach ist das kleinere Übel.«
»Ich will nichts mehr hören von Bach«, sagte ich ärgerlich und stieß mich wieder von der Wand ab. »Ich werde ihn diesmal schlagen, glaube mir. Wenn es nur die geringste Chance gibt, werde ich ihn austricksen.«
Kim antwortete nicht, aber das war auch nicht nötig. Ich wusste sowieso, was in ihr vorging: Sie wollte einfach nur weg von hier und mein großartiges Versprechen, es Bach diesmal zu zeigen, glitt an ihr ab wie die Ankündigung eines Politikers, nach der nächsten Wahl die Steuern zu senken.
»Dann los.« Ich stieß mich ab, hinauf auf die Treppe, auf direktem Weg hinein in unser Verderben oder in Richtung Rettung, wer wusste das schon. Taumelnd und stolpernd jagten wir die Nottreppe hoch, während ich mit einer Hand am Geländer Halt suchte; ich war noch immer nicht ganz sicher auf den Beinen. Unter uns zerriss ein Donnern die gespenstische Stille, die ansonsten nur von den Geräuschen unserer unsicheren Schritte unterbrochen wurde. Ein Zittern ging durch den Beton.
»Komm endlich«, herrschte ich Kim an, die ein paar Schritte hinter mir zurückgeblieben war. »Ich habe keine Lust, mit dem Kasten in die Luft zu fliegen.«
So schnell wir konnten hetzten wir um eine weitere Kehrtwende der Treppe. Und dann blieb ich abrupt stehen; Kim taumelte in mich hinein.
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