»Du erbärmlicher Scheißkerl!«, schrie Steel. »Jetzt mach ich dich fertig!«
Er gab mir einen kraftvollen Stoß, der mich quer durch den Raum schleuderte. An der gegenüberliegenden Wand prallte ich auf; er musste über unglaubliche Kräfte verfügen und ich dachte an Silberrücken-Gorillas, die dreimal so schwer wie Menschen waren, aber dreißig mal so stark. Ein ähnliches Kräfteverhältnis schien zwischen mir und Steel zu bestehen. Ich rutschte an der Wand zu Boden; Schleim und Blut rannen mir aus der Nase und meine Schulter brannte wie Feuer. Ich versuchte aufzustehen, aber die Welt drehte sich wie ein wirrer Kreisel um mich und ich musste erneut würgen und husten und konnte nur mit Mühe verhindern, dass ich mich übergab.
Steel kam auf mich zu, aber jegliches Grinsen hatte ich ihm mit meinen Faustschlägen aus dem Gesicht gewischt. »Ich bring dich jetzt um«, kündigte er an. Seine geschwollenen Lippen verzogen sich zu einer undefinierbaren Grimasse. Seine Zähne sahen sonderbar gezackt aus und ich begriff, dass ich ihm ein paar Vorderzähne abgebrochen hatte.
»Halt«, stammelte ich. »Moment...« Mein Blick suchte nach Hilfe, aber da war keine; Marcel lehnte mit aschfahlem, verwirrtem Gesicht ein paar Schritte von mir entfernt an der Wand und so, wie er aussah, würde er sich nicht einmal mehr selbst auf den Beinen halten können, geschweige denn, es mit Steel aufnehmen.
Steel stand jetzt direkt vor mir, eine im wahrsten Sinne des Wortes stinkende Kreatur. Es lag in seiner menschlichen Natur, ohne Gewissensbisse über Leichen zu gehen, und der fremdartige Teil in ihm würde diese Tendenz noch weiter verstärken, sofern das überhaupt möglich war.
»Was... was ist hier los?«
Das war Kims Stimme; sie klang flach und abgehackt und ich hatte in der ganzen Aufregung übersehen, dass sie sich mittlerweile aufgerichtet und auf den Rand ihrer Pritsche gesetzt hatte.
Steel verhielt mitten in der Bewegung. Seine geschwollenen Lippen öffneten und schlossen sich, als sei er unentschlossen, was er jetzt machen sollte; dann drehte er sich langsam um. »Haltet euch da raus«, sagte er. »Wir hatten eine kleine Störung, aber die ist jetzt vorbei. Ich erledige das.«
Trotz meiner Benommenheit und der pochenden Schmerzen in meiner Schulter begriff ich, dass da etwas nicht stimmte. Es war etwas in Steels Stimme und eine Kleinigkeit in seiner Formulierung – er sprach mit Kim und Ray beinahe wie mit Gleichgestellten, aber nicht wie mit Menschen oder Wesen, denen er hundertprozentig trauen konnte. Etwas schob sich in meine Gedanken, kein Hoffnungsschimmer, dazu war meine Lage zu verzweifelt, aber so etwas wie der Glaube, nein, die Gewissheit, dass nichts sicher war im Leben, auch nicht ein Sieg von Steel und seinesgleichen. Ich versuchte das dumpfe Kreiseln in meinem Kopf und die rein körperlichen Schmerzen zu ignorieren. Mit äußerster Willenskraft gelang es mir, meine Erstarrung zu überwinden und mich langsam an der Wand nach oben zu schieben.
»Was hast du mit John vor?«, fragte Kim ängstlich und ich spürte die ganze Kraft meiner Liebe für sie, so wie ich in ihren Worten ihre Liebe spürte. Was auch immer mit ihr passiert war und was auch immer diese Maschine mit ihr hatte anstellen wollen: Sie war in diesen Minuten nicht in der Gewalt der Hive. Der Gedanke gab mir neue Kraft, wenn sie auch weit von den wilden Hoffnungen entfernt war, die ich noch vor ein, zwei Tagen gelegentlich empfunden hatte. Und dennoch: Solange ich lebte und über einen freien Willen verfügte, würde ich alles tun, um sie und mich aus dieser verzweifelten Lage zu befreien.
»Nun... ich muss ihn eine Zeit lang aus dem Verkehr ziehen, meine Liebe.« In Steels Stimme schwang plötzlich ein ganz neuer Ton mit, fast so etwas wie Sanftheit, und plötzlich erinnerte ich mich daran, wie mir Bach von Steels Ehe berichtet hatte. Es war mir nie in den Sinn gekommen, dass selbst ein Mensch wie Steel eine andere Seite haben konnte.
Diesmal gelang es mir, vollends auf die Beine zu kommen. Aber mein Magen revoltierte schon wieder und meine Knie gaben nach, sodass ich mich kaum aufrecht halten konnte. Nur über Steels Schulter hinweg sah ich Kim, wie sie gleich mir unsicher auf der gegenüberliegenden Seite stand, ein verschwommener Schatten inmitten blauen Dunstes aus gefrorener Kälte. Ich suchte ihren Blick, aber es gelang mir nicht, ihn einzufangen.
»Was heißt das... aus dem Verkehr ziehen?«, fragte Kim und jetzt war tatsächlich etwas von der alten Schärfe in ihrer Stimme.
»Nun...«, begann Steel unsicher.
»Es heißt, dass er ihn totschlagen will«, mischte sich Ray ein. »Es bedeutet nichts anderes, als dass dieser Bastard seinen Mordgelüsten nachgeben will, um meinen Bruder umzubringen!«
Den letzten Teil des Satzes schrie er. Und das unglaubliche: Steel fuhr ihm nicht etwa in seiner unnachahmlichen Art schroff über den Mund, sondern er wirkte tatsächlich verunsichert. »Kein Grund zur Panik«, sagte er hastig. »Dein Bruder hat mich angegriffen. Aber vielleicht habe ich ja auch etwas übertrieben reagiert.«
»Ach ja, hast du das?«, fragte Ray höhnisch.
Steel zuckte mit den Achseln und drehte sich halb zur Seite, sodass er sowohl mich als auch Ray im Blickfeld hatte. Er schien nicht sehr überrascht zu sein, dass ich mich aufgerappelt hatte. Sein Blick irrte zwischen mir und Ray hin und her. Wenn er gewollt hätte, hätte er mich mit einem einzigen Schlag bewusstlos schlagen können. Doch stattdessen drehte er sich wieder um und ging auf Ray zu.
Was ging hier vor? Hatte er keine Kontrolle über Ray und Kim? War ich in einem sensiblen Moment hier hereingestolpert, als mein Bruder und Kimberley nicht mehr vollständig unter dem Einfluss der unbegreiflichen Kraft standen, die sie in diese Situation gebracht hatte?
»Beruhigt euch erst einmal«, sagte Steel in begütigendem Tonfall. Er blieb direkt vor den Pritschen stehen und verdeckte mir damit die Sicht auf Kim. »Legt euch wieder hin...«
»Nein!«, schrie ich. »Tut das nicht! Kämpft dagegen an!«
Steel wandte sich wieder mir zu. Es war eine langsame Bewegung und in seinem Gesicht las ich so etwas wie Trauer. War auch das für ihn ein Moment, wo er sich seinem Menschsein wieder annäherte?
Einen Herzschlag lang schien die Zeit stillzustehen. Steels Blick durchbohrte mich, aber er ging gleichzeitig durch mich hindurch und verschwand in weiter Entfernung irgendwo hinter mir. Gleichzeitig rutschte Ray in mein Blickfeld. Seine Hand fuhr zum Hosenbund und so schnell und geschickt, wie er die 38er gezogen hatte, als er die Majestic-Agenten erschossen hatte, riss er auch diesmal die Waffe hervor. Ehe ich überhaupt begriff, was er vorhatte, holte er mit der 38er aus, als habe er einen Ball in der Hand. Dann schleuderte er die Waffe von sich, genau in meine Richtung. Sie segelte durch die Luft wie ein Basketball auf dem Weg zum Korb, nur dass der Korb in diesem Fall meine zitternde Hand sein musste, wenn ich eine Chance haben sollte, diesem Irrsinn ein Ende zu bereiten.
Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtete ich, dass meine getrübte Wahrnehmung mir einen Strich durch die Rechnung machen würde und ich gar nicht anders konnte als danebenzugreifen. Doch dann erwischte ich die Waffe und sie glitt in meine Hand wie ein lebendiges Wesen; mein Zeigefinger legte sich um den Abzugshebel und mein Daumen zog den Sicherungshebel zurück.
Steel erwachte aus seiner Erstarrung. Aber er handelte ganz anders, als ich es erwartet hatte. Statt zu versuchen, einem möglichen Treffer durch eine schnelle Bewegung auszuweichen oder aber auch auf mich zuzustürmen, um mir die 38er zu entreißen, machte er einen Satz in die andere Richtung, direkt auf Kim zu.
Ich schoss trotzdem. Die erste Kugel ging über Steels Schulter in die Apparatur hinter ihm; der scharfe Knall des 38er-Schusses mischte sich mit einem splitternden Geräusch, als die Kugel ein Stück aus dem Apparat herausriss und sich irgendwo ins Innere bohrte. Ich kam mir vor wie auf dem Schießstand, zwei weitere Kugeln verließen die Waffe, aber auch sie trafen ihr Ziel nicht, denn Steel hatte sich in letzter Sekunde wieder gebückt. Fauchend fraßen sich die Kugeln in die fremdartige Verkleidung hinter ihm und ich hoffte, dass sie möglichst viel Schaden anrichteten.
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