»Der Kittel ist voller Farbkleckse und ölverschmiert«, sagte Marcel, der näher getreten war, »und so, wie er aussieht, hängt er schon ein paar Jahrzehnte hier. Nur gut, dass es hier keine Motten gibt – er wäre sonst längst zerfressen.«
»Mag sein. Aber das hilft uns auch nicht weiter.« Ich deutete in den Gang, der aus dem Raum hinausführte. »Gehen wir dort weiter.«
Marcel nickte nur stumm. Wir betraten den viel schmaleren Gang, der irgendwo vor uns im düsteren Nichts verschwand. Ich starrte angestrengt in das Halbdunkel, das trotz der Glühbirnen, die auch hier noch erstaunlich zuverlässig ihren Dienst taten, düster und unheimlich wirkte. Es erschien mir vollkommen sinnlos, einfach aufs Geratewohl weiter zu marschieren, und doch blieb uns nichts anderes übrig. Unser zielloses, panisches Vorgehen kam mir vor wie eine Szene aus den in den fünfziger Jahren populären phantastischen Filmen mit Titeln wie Them! oder The Beginning of the End, die von unbekannten, nicht zu fassenden Bedrohungen handelten. Und tatsächlich kam mir das analog zum Filmtitel wie der Anfang vom Ende vor: Der Gang war schmal, niedrig, schmutzig und stinkend und es schien mir vollkommen ausgeschlossen zu sein, dass er woanders hinführte als geradezu in unser Verderben.
Das Verderben begann schon wenige Schritte später. Es begann in dem Moment, als ich um die nächste Ecke des Gangs bog, der in einer größeren Halle endete. Eine Halle, von der mehrere Türen abgingen und deren Aufteilung mir seltsam vertraut vorkam, bis ich begriff, dass sie ähnlich angelegt war wie die Diele in einem der Farmhäuser, bei denen man nach Öffnen der Haustür nicht gleich in der Küche oder im Wohnzimmer stand: fast genauso wie die Diele im Elternhaus meines Jugendfreunds Allan. Das alles hatte so überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit Majestic und wenn wir uns noch immer unter dem Reich Frank Bachs befanden, dann war Majestic entgegen meiner ersten Vermutung nicht auf den Fundamenten dieses unterirdischen Komplexes errichtet worden, sondern überlappte nur einen Teil davon.
Ich blieb so abrupt stehen, dass Marcel gegen mich prallte. Hinter einer der Türen war ein seltsames Klackern zu hören, dann ein Summen und ein gleichmäßig schabendes Geräusch, im Rhythmus eines langsam gespielten Blues, aber ohne jeden musikalischen Anklang; ein rein mechanisches Gedröhn, wie es vielleicht aus einem Bienenstock kommen kann oder aus einer Backstube, wenn Teigrollen gedreht werden. Plötzlich klickte ein neues Glied in der langen Kette meiner Erinnerungen ein. Ich war sicher, ein solches Geräusch schon einmal gehört zu haben, und das vor längerer Zeit und wieder fiel mir der Landarbeiter ein, jener alte Indianer mit seinen geheimnisvollen Kräutern und aus Pilzen gewonnenen Substanzen, der Ray und mich für ein paar Stunden mit dem Gemisch seiner Pfeife in eine andere, erschreckende und kalte Welt entführt hatte.
Die Erinnerung mochte so sinnlos sein, wie es Erinnerungen oft sind, und doch erschreckte sie mich wie der heiße Atem eines fremden großen Hundes, der einem plötzlich und unvorbereitet ins Gesicht hechelt. Ich wusste mit unerschütterlicher Sicherheit, dass wir nicht weiterzugehen brauchten, dass Kim sich hinter der Tür befand, durch die die Geräusche drangen.
Der Raum war nicht leer. Auch damit ähnelte er der Diele von Allans Eltern, die häufig mit Gerümpel vollgestellt war in einer untypischen Unordnung, denn die Eltern meiner anderen Freunde legten auf gepflegte Räumlichkeiten Wert. Aber hier war es nicht nachlässig platzierter Hausrat, sondern Gerätschaften, die auf den ersten Blick jenen ähnelten, wie wir sie in dem Labor vorgefunden hatten, in das uns Steel gesperrt hatte. Ich war nicht in der Stimmung, mich hier genauer umzusehen, und doch störte mich dieser Anblick, traf irgendwo in mir eine empfindliche Ader.
Und das nicht, weil ich ein Ordnungsfanatiker war. Sondern weil es einfach nicht passte. Nicht zu Raumschiffen und Außerirdischen, die harmlose Menschen entführten, um sie in Monster zu verwandeln. Nicht zu Steel und den anderen Hive und nicht zu dem Bild, dass ich mir von der Auseinandersetzung gemacht hatte, in die sie uns verwickelten. Und schon gar nicht zu dem sauberen und ordentlichen Majestic unter dem Oberbefehl eines Frank Bachs, der wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung davon hatte, auf welchem Pulverfass er saß.
In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich die Gedanken eines Kindes dachte. Das war nicht John Loengard, der sich als Regierungsbeamter und Majestic-Agent bewährt hatte, bevor er sich in einer ganz bewussten Entscheidung gegen Frank Bach gestellt hatte, um dafür zu kämpfen, dass die Menschheit die schreckliche Wahrheit erfuhr. Das war nicht mehr der rebellische junge Mann, der jegliche Art von Autorität hinterfragte und nur dann akzeptierte, wenn sie nicht auf blindem Gehorsam bestand. Nein, das war wieder der kleine junge, John, der Drittklässler, dem ein alter Indianer beigebracht hatte, was Furcht vor dem Unbekannten heißt. Es waren durchaus kraftvolle Gedanken, aber von der Art, wie sich mitunter bei Heranwachsenden Stärke und Hilflosigkeit eigentümlich mischen können. Ich habe die Grenze überschritten, dachte ich, und was auch immer mich hinter dieser Tür erwartete, durch die nach wie vor das schreckliche Schaben drang: Ich würde einfach weitermachen, ungeachtet der Furcht, die sich tief in mich eingegraben hatte, und ungeachtet des tödlichen Gefühls, dass ich zu spät kommen würde.
Ohne auf Marcel zu achten, ging ich auf die Tür zu, die zu durchschreiten mir Gewissheit geben würde. Es war eine schwere Eisentür, eine Tür, mit der man Sicherheitstrakte verriegelt – oder aber Räume schützt, in die niemand unvorhergesehen hereinstolpern soll.
Vorausgesetzt, sie waren verschlossen. Was ich im vorliegenden Fall so schnell wie nur möglich zu überprüfen gedachte.
»Nicht ganz so schnell«, flüsterte Marcel nervös, der sich dicht bei mir gehalten hatte. »Wir sollten jetzt nicht übereilt handeln.«
»Wir sollten was nicht?«, fragte ich in ebenso leisem Tonfall.
»Jemand hat die Tür zugeschweißt«, sagte Marcel. »Sehen Sie sich nur die Spuren an den Angeln an.« Er deutete auf die andere Seite. »Und dort, die Verblendung des Schlosses hat ebenfalls Bekanntschaft mit einer Schweißflamme gemacht. Wäre... wäre ein Wunder, wenn sich die Tür noch öffnen ließe.«
Ich folgte der Richtung seiner ausgestreckten Hand, aber ich verstand nicht. Es waren tatsächlich Schweißspuren an Tür und Rahmen vorhanden, dicke, hässliche Flecken, die sich über die Oberfläche gesetzt hatten, um sie für alle Ewigkeit miteinander zu vereinen. Kim, Ray und Steel sollten in diesem Raum sein, der dann von außen zugeschweißt worden war? Das machte überhaupt keinen Sinn.
Das Geräusch hinter der Tür veränderte sich, fast unmerklich und langsam nahm es an Lautstärke und Intensität zu, während sich gleichzeitig der Rhythmus beschleunigte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis aus dem schabenden Blues ein treibender Rock’n’Roll wurde. Ich wusste nicht, warum, aber es ließ mir das Herz bis zum Hals schlagen. Mein Instinkt sagte mir, dass wir nicht mehr viel Zeit hatten. Der schmerzhafte Druck um meinen Kopf und das Brennen in meiner Luftröhre machten mir darüber hinaus klar, dass es höchst ungesund war, mich der Luft hier unten noch viel länger auszusetzen. Schon begannen bunte Flecken vor meinen Augen zu tanzen, die ich nur mit aller Konzentration wegblinzeln konnte. Es wäre Wahnsinn, wenn wir kurz vor Erreichen des Ziels dem zum Opfer fallen würden, was uns gleich Steel zu willenlosen Tätern machen würde.
Dass es mir erschreckend schwer fiel, diesen Gedanken weiterzuverfolgen, merkte ich überhaupt nicht.
»Vielleicht hilft uns das weiter«, sagte Marcel. Schon wieder zeigte er auf etwas; diesmal war es eine massive Stahlflasche, so groß wie ein vielleicht zwölfjähriges Kind, mit tiefen, rostigen Kratzern in der ockerfarbigen Oberfläche. »Acetylen«, erklärte Marcel. »Dort hinten, in der blauen Flasche«, er deutete auf die andere Flasche, die ich zuerst nicht bemerkt hatte, »dort muss Sauerstoff drin sein, wenn sie tatsächlich hier geschweißt haben.«
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