Qing-jao hatte seit langem gelernt, einfach nicht mehr darauf zu achten, wie schmutzig sie bei der rechtschaffenen Arbeit wurde. »Meine Hände waren schon viel schmutziger«, sagte Qing-jao. »Wenn wir mit der rechtschaffenen Arbeit fertig sind, kommst du mit mir. Ich werde meinem Vater von unserem Vorhaben erzählen, und er wird entscheiden, ob du meine geheime Magd sein kannst.«
Wang-mus Ausdruck wurde verdrossen. Qing-jao war froh, daß man so leicht von ihrem Gesicht lesen konnte. »Was ist los?« fragte sie.
»Väter entscheiden immer alles«, sagte Wang-mu.
Qing-jao nickte und fragte sich, warum Wang-mu etwas so Offensichtliches überhaupt sagte. »Das ist der Anfang der Weisheit«, meinte sie dann. »Außerdem ist meine Mutter tot.«
Die rechtschaffene Arbeit endete immer am frühen Nachmittag; offiziell, damit diejenigen, die weit von den Feldern entfernt wohnten, vor Anbruch der Dunkelheit nach Hause zurückkehren konnten. In Wirklichkeit jedoch wurde damit der Brauch anerkannt, am Ende der rechtschaffenen Arbeit ein Fest zu feiern. Da viele Leute ihr Nachmittagsschläfchen verpaßt hatten, waren sie nach der rechtschaffenen Arbeit aufgekratzt, als wären sie die ganze Nacht aufgeblieben. Andere fühlten sich erschöpft und müde. Beides diente als Entschuldigung zu gemeinsamen Essen und Trinken mit Freunden, wonach man zu früher Stunde ins Bett fiel, um den verlorenen Schlaf und das harte Tagwerk auszugleichen.
Qing-jao gehörte zu denen, die sich erschöpft fühlten; Wang-mu dagegen war offensichtlich aufgekratzt. Oder vielleicht lag es einfach nur daran, daß die Lusitania-Flotte Qing-jao Sorgen bereitete, während Wang-mu soeben als geheime Magd einer gottberührten Dame akzeptiert worden war. Qing-jao half Wang-mu bei der Prozedur, die nötig war, wollte man sich im Hause Han um eine Anstellung bewerben – die Waschung, das Abnehmen der Fingerabdrücke, die Sicherheitsüberprüfung –, bis sie schließlich Wang-mus Plappern keinen Augenblick länger mehr aushalten konnte und sich zurückzog.
Als sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufging, hörte sie, wie Wang-mu ängstlich fragte: »Habe ich meine neue Herrin wütend gemacht?« Und Ju Kung-mei, der Hüter des Hauses, antwortete: »Die Gottberührten antworten anderen Stimmen als der deinen, Kleine.« Es war eine freundliche Antwort. Qing-jao bewunderte oft den Sanftmut und die Weisheit derer, die ihr Vater in dieses Haus geholt hatte. Sie fragte sich, ob sie bei ihrer ersten Einstellung genauso klug gewählt hatte.
Kaum beschäftigte sie sich mit dieser Frage, da wußte sie auch schon, daß sie verderbt gehandelt hatte, solch eine Entscheidung so schnell zu treffen und ohne sich vorher mit ihrem Vater zu beraten. Wang-mu würde sich als hoffnungslos ungeeignet erweisen, und Vater würde sie, Qing-jao, tadeln, so töricht gehandelt zu haben.
Der Gedanke an Vaters Zurechtweisung genügte, um den augenblicklichen Tadel der Götter herbeizuführen. Qing-jao fühlte sich unrein. Sie stürmte auf ihr Zimmer und schloß die Tür. Es war die reinste Ironie, daß sie immer und immer wieder denken konnte, wie verhaßt ihr die Rituale waren, die die Götter verlangte, wie leer ihre Verehrung war – doch ein einziger unloyaler Gedanke an Vater oder den Sternenwege-Kongreß, und sie mußte augenblicklich Buße tun.
Normalerweise würde sie eine halbe, eine volle Stunde oder noch länger versuchen, dem Drang zur Buße zu widerstehen, ihre Unreinheit zu ertragen. Heute jedoch ersehnte sie das Ritual der Reinigung geradezu. Auf seine eigene Art hatte das Ritual Sinn, einen Anfang und ein Ende, Regeln, denen man folgen konnte. Ganz im Gegensatz zum Problem der Lusitania-Flotte.
Sie kniete nieder und wählte absichtlich die schmalste, schwächste Linie in dem bleichesten Brett, das sie fand. Sie wollte eine harte Buße; vielleicht würden die Götter sie dann für rein genug halten, um ihr die Lösung des Problems zu zeigen, das Vater ihr gestellt hatte. Sie brauchte eine halbe Stunde, um sich den Weg durch das Zimmer zu bahnen, denn sie verlor die Linie immer wieder und mußte jedesmal von vorn anfangen.
Schließlich wollte sie, erschöpft von der rechtschaffenen Arbeit und mit müden Augen vom Verfolgen der Linien, nur noch schlafen; statt dessen setzte sie sich vor ihrem Terminal auf den Boden und rief die Zusammenfassung ihrer bisherigen Arbeit auf. Nach der Überprüfung und Eliminierung aller sinnloser Absurditäten, die sich im Verlauf ihrer Nachforschungen ergeben hatten, blieben drei weitgefaßte mögliche Kategorien von Erklärungen übrig. Erstens, das Verschwinden der Flotte war von irgendeinem Naturereignis herbeigeführt worden, das für die Astronomen einfach noch nicht sichtbar geworden war. Zweitens, der Verlust der Verkürzer-Kommunikation war die Folge entweder von Sabotage oder einer Befehlsentscheidung in der Flotte. Drittens, der Verlust der Verkürzer-Kommunikation war aufgrund einer planetenweiten Verschwörung entstanden.
Die erste Erklärung war durch die Art und Weise, wie die Flotte reiste, ausgeschlossen. Die Sternenschiffe flogen einfach nicht dicht genug beieinander, als daß irgendein bekanntes natürliches Phänomen sie alle auf einmal hätte vernichten können. Die Flotte hatte kein Rendezvous durchgeführt – der Verkürzer machte so etwas zur reinen Zeitverschwendung. Statt dessen waren alle Schiffe von dem Punkt aus, an dem sie sich zufällig befanden, als sie der Flotte zugeteilt wurden, nach Lusitania aufgebrochen. Selbst jetzt, wo nur noch ein paar Lichtjahre verlieben, bevor sie sich allesamt im Orbit um Lusitanias Sonne befänden, waren sie so weit auseinander, daß kein vorstellbares Naturereignis gleichzeitig Auswirkungen auf sie alle gehabt haben könnte.
Die zweite Kategorie war durch die Tatsache, daß die gesamte Flotte verschwunden war, fast genauso unwahrscheinlich. Konnte irgendein von Menschen ersonnener Plan mit so einer perfekten Effizienz funktionieren – und ohne irgendeinen Hinweis auf eine Vorausplanung in irgendeiner Datenbank oder einem Persönlichkeitsprofil oder in den Kommunikations-Logbüchern, die bei Planetarien Computern unterhalten wurden? Es gab auch nicht den geringsten Hinweis darauf, daß irgend jemand Daten verändert oder irgendwelche Kommunikationen getarnt hatte, um ja keine Spur zu hinterlassen. Wenn es ein Plan von Mitgliedern der Flotte war, dann einer ohne Beweise, Tarnungen oder Fehler.
Derselbe Mangel an Beweisen ließ die Vorstellung einer planetenweiten Verschwörung noch unwahrscheinlicher erscheinen. Und noch unwahrscheinlicher wurden all diese Möglichkeiten durch die reine Simultanität der Ereignisse. Soweit festgestellt werden konnte, hatte jedes Schiff die Verkürzer-Kommunikation fast genau zum gleichen Zeitpunkt abgebrochen. Es mochte eine Verzögerung von ein paar Sekunden oder sogar Minuten gegeben haben, doch insgesamt waren es keine fünf Minuten gewesen, kein Zeitraum, der genügt hätte, um auf einem Schiff eine Bemerkung über das Verschwinden eines anderen zu machen.
Die Zusammenfassung war in ihrer Einfachheit elegant. Es blieb nichts übrig. Die Beweise waren so vollständig, wie sie es jemals sein würden, und sie machten jede vorstellbare Erklärung unvorstellbar.
Warum tut Vater mir das an? fragte sie sich nicht zum ersten Mal.
Augenblicklich fühlte sie sich unrein, weil sie solch eine Frage überhaupt gestellt hatte. Sie mußte sich waschen, um die Unreinheit ihres Zweifels zu entfernen.
Doch sie wusch sich nicht. Statt dessen ließ sie die Stimme der Götter in sich anwachsen, ließ ihre Befehle dringlicher werden. Diesmal leistete sie ihren Widerstand nicht aus dem rechtschaffenen Drang, sich zu disziplinieren. Diesmal versuchte sie absichtlich, soviel Aufmerksamkeit der Götter wie möglich auf sich zu ziehen. Erst als sie vor der Not keuchte, sich zu reinigen, erst als sie bei der beiläufigsten Berührung ihrer eigenen Haut erschauderte, erst da stellte sie ihre Frage.
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