Ja, der Baum wuchs. Die Blätter sprossen, während sie zusahen. Doch es würde noch viele Stunden, vielleicht sogar Tage dauern, bevor sie wußten, ob es ein Vaterbaum war, ob Glas noch lebte und sein Bewußtsein sich darin befand. Eine Zeit des Wartens, in der Gras' Baum in völliger Isolation wachsen mußte.
Wenn ich nur einen Ort finden könnte, dachte Ender, an dem ich mich ebenfalls in völliger Isolation befände, an dem ich ohne Einmischung über die seltsamen Dinge nachdenken könnte, die mir widerfahren sind.
Doch er war kein Pequenino, und das Unbehagen, an dem er litt, stammte nicht von einem Virus, der getötet oder aus seinem Leben entfernt werden konnte. Seine Krankheit saß an der Wurzel seiner Identität, und er wußte nicht, ob er sie jemals loswerden konnte, ohne sich dabei selbst zu zerstören. Vielleicht, dachte er, repräsentieren Peter und Val die Gesamtheit dessen, was ich bin; wenn sie nicht mehr wären, wäre vielleicht nichts mehr übrig. Welcher Teil meines Seele, welche Tat meines Lebens kann nicht so erklärt werden, daß der eine oder die andere von ihnen seinen oder ihren Willen durch mich ausgeführt haben?
Bin ich die Summe meiner Nachkommen? Oder der Unterschied zwischen ihnen? Worin besteht die besondere Arithmetik meiner Seele?
Valentine versuchte, nicht ständig über dieses junge Mädchen nachzudenken, das Ender aus dem Außen mitgebracht hatte. Natürlich wußte sie, daß es ihr jüngeres Selbst war, wie er sich daran erinnerte, und sie fand es sogar ziemlich nett von ihm, in seinem Herzen eine so starke Erinnerung von ihr in diesem Alter zu bewahren. Von allen Menschen auf Lusitania wußte nur sie allein, warum die Erinnerung an sie in ausgerechnet diesem Alter in seinen unbewußten Gedanken verharrt war. Bis zu dieser Zeit hatte er sich in der Kampfschule befunden und war völlig von seiner Familie getrennt gewesen. Obwohl er es nicht wissen konnte, wußte sie, daß seine Eltern ihn fast vergessen hatten. Natürlich nicht in der Hinsicht, daß es ihn gab, doch als Bestandteil ihres Lebens. Er war einfach nicht mehr da, sie waren nicht mehr verantwortlich für ihn. Sie hatten ihn dem Staat übergeben, waren der Sorge für ihn entbunden worden. Wäre er tot gewesen, wäre er eher ein Teil ihres Lebens geblieben; doch so konnten sie nicht einmal ein Grab besuchen. Valentine machte ihnen deshalb keine Vorhaltungen; diese Einstellung bewies, daß sie nicht unterzukriegen und anpassungsfähig waren. Aber sie war nicht imstande gewesen, es ihnen gleichzutun. Ender war immer bei ihr, in ihrem Herzen. Und als Ender dann, nachdem er allen Herausforderungen begegnet war, die man ihm in der Kampfschule vorgeworfen hatte, entschlossen war, das ganze Unternehmen aufzugeben, war der Offizier, der ihn in ein dienstbares Werkzeug verwandeln sollte, zu ihr gekommen. Hatte sie zu Ender gebracht. Hatte dafür gesorgt, daß sie eine Zeitlang zusammen sein konnten – derselbe Mann, der sie auseinandergerissen und so tiefe Wunden in ihren Herzen zurückgelassen hatte. Sie hatte ihren Bruder damals geheilt – soweit wiederhergestellt, daß er weitermachen und die Menschheit vor der Vernichtung durch die Krabbler bewahren konnte.
Natürlich hat er die Erinnerung an mich in diesem Alter bewahrt; sie ist stärker als all unsere zahllosen Erlebnisse, die wir seitdem gehabt haben. Und wenn seine unbewußten Gedanken ihre intimsten Erinnerungen hervorbringen, dann handelt es sich natürlich um das Mädchen, das ich damals war und das er am tiefsten in sein Herz geschlossen hat.
Sie wußte das alles, sie verstand das alles, sie glaubte das alles. Und doch nagte es an ihr, tat es weh, daß er sie die ganze Zeit über als dieses fast geistlose, perfekte Geschöpf in Erinnerung gehabt hatte. Daß die Valentine, die Ender wirklich liebte, ein Geschöpf von unmöglicher Reinheit war. Um dieser imaginären Valentine willen war er mir all die Jahre, bevor ich Jakt heiratete, ein so enger Gefährte. Bis er zu dieser kindhaften Version von mir zurückkehrte, weil ich Jakt geheiratet habe.
Unsinn. Es brachte nichts ein, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was dieses junge Mädchen bedeutete. Ganz gleich, wie und warum es geschaffen worden war, es war jetzt da, und man mußte sich mit ihm befassen.
Der arme Ender schien nichts zu begreifen. Er war anfangs sogar der Meinung gewesen, er solle die junge Val bei sich behalten. »Ist sie in gewisser Hinsicht nicht meine Tochter?« hatte er gefragt.
»Sie ist in keiner Hinsicht deine Tochter«, hatte sie geantwortet. »Wenn überhaupt, ist sie meine Tochter. Und es wäre mit Sicherheit falsch, sie allein bei dir aufzunehmen. Besonders, da auch Peter bei dir wohnt, und er ist nicht gerade der vertrauenswürdigste Anstandswächter, den es gibt.« Ender war noch immer nicht völlig überzeugt – er wäre lieber Peter als Val losgeworden –, doch er gab nach, und seitdem wohnte Val in Valentines Haus. Valentine hatte vorgehabt, dem Mädchen eine Freundin und Lehrerin zu werden, mußte jedoch feststellen, daß sie dazu einfach nicht imstande war. Sie fühlte sich in Vals Gegenwart unbehaglich. Sie fand immer wieder neue Gründe, das Haus zu verlassen, wenn Val dort war; sie war außerordentlich dankbar, wenn Ender kam, um sie zu einem Gespräch mit ihm und Peter abzuholen.
Schließlich kam es, daß Plikt stumm in die Bresche sprang und das Problem löste. Plikt wurde Vals wichtigste Gefährtin und Hüterin in Valentines Haus. Wenn Val nicht bei Ender war, war sie bei Plikt. Und an diesem Morgen hatte Plikt vorgeschlagen, ein neues Haus zu bauen – für sie und Val. Vielleicht habe ich zu vorschnell zugestimmt, dachte Valentine. Aber es fällt Val wahrscheinlich genauso schwer, ein Haus mit mir zu teilen, wie umgekehrt.
Doch als sie nun beobachtete, wie Plikt und Val auf den Knien die neue Kapelle betraten und vorwärts rutschten, um vor dem Altar Bischof Peregrinos Ring zu küssen, begriff Valentine, daß sie nichts zu »Vals Bestem« getan hatte, wie sehr sie es sich auch eingeredet hatte. Val war völlig selbstbewußt, unbeeinflußbar und gelassen. Warum hatte sich Valentine eingebildet, sie könne die junge Val glücklicher oder unglücklicher, zufriedener oder unzufriedener machen? Ich bin für das Leben dieses Mädchens unwichtig. Aber sie ist nicht für mein Leben unwichtig. Sie ist gleichzeitig eine Bestätigung und eine Widerlegung der wichtigsten Beziehung meiner Kindheit und eines Großteils meines Lebens als Erwachsene. Ich wünschte, sie wäre im Außen zerfallen, wie Miros alter, verkrüppelter Körper.
Und sie stand sich selbst gegenüber. Diesen Test hatte Ela augenblicklich durchgeführt. Die junge Val und Valentine waren genetisch identisch.
»Aber es ergibt keinen Sinn«, protestierte Valentine. »Ender kann sich wohl kaum meinen genetischen Kode eingeprägt und ein Muster dieses Kodes im Sternenschiff gegeben haben.«
»Soll ich es dir etwa erklären?« fragte Ela.
Ender hatte eine mögliche Erklärung vorgeschlagen – der genetische Kode der jungen Val könnte fließend gewesen sein, bis sie Valentine begegnet war, und danach hatten die Philoten von Vals Körper sich nach dem Muster ausgebildet, das sie in Valentines Körper gefunden hatten.
Valentine behielt ihre Meinung dazu für sich, bezweifelte jedoch, daß Enders Vermutung zutraf. Die junge Val hatte vom ersten Augenblick an Valentines Gene gehabt, weil eine Person, die so perfekt Enders Vorstellung von Valentine entsprach, keine anderen Gene haben konnte; das Naturgesetz, das Jane im Sternenschiff aufrecht erhielt, verlangte es. Oder es gab vielleicht eine Kraft, die selbst an solch einem Ort des völligen Chaos den Dingen Form und Gestalt gab. Doch es spielte kaum eine Rolle, bis auf die Tatsache, daß Enders Bild von ihr, ganz gleich, wie ärgerlich perfekt und ihr selbst unähnlich diese neue Pseudo-Val auch sein mochte, so genau gewesen war, daß sie genetisch ein und dieselbe Person waren. Doch so falsch konnte sein Bild von ihr nicht gewesen sein. Vielleicht war ich damals so perfekt und so schön.
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