Stets ist die Ansicht des Stärksten die beste.
JEAN DE LA FONTAINE
Zeit: Fünf Wochen nach der Stunde Null
Sie waren vorwärts getrieben, dann etwa achthundert Meter weit nach innen, einen sich spiralförmig windenden Gang entlang, nicht ganz schwerelos, aber doch mit so wenig Schwerkraft, daß es den Neulingen nicht leichtfiel, sich zu bewegen. Wes versuchte zu helfen, wo er konnte.
Zwei außerirdische Krieger trugen große Kisten. Tashajämp ging ihnen voraus.
Ein riesiges Portal öffnete sich vor ihnen: ein Lastentor, weit größer, als es für das Hindurchgehen eines Fi’ nötig gewesen wäre. Sie traten ein.
Der gewaltige Raum mußte längs zur Schiffsachse liegen, vor dem Raum des Podo Thaktan. Gelbweißes Licht fiel in einem langen Streifen durch seine Mitte, zu grell, als daß man hätte hinsehen können. Der übrige Raum war grün beleuchtet, mit Flecken von Karmesinrot und Gelb dazwischen. Unbekannte Pflanzen wuchsen in käfigartigen Behältern und wurzelten in an den Wänden befestigten dicken, feuchten Polstern. Grüne Banner flatterten matt im Zug der Klimaanlage. Ein Feld gelber Blumen wandte ihnen die Köpfe zu, als wollten sie die Störenfriede näher ins Auge fassen.
Hier war eine annähernd rechteckige Fläche loser Erde, von zahlreichen Löchern mit einem Durchmesser zwischen fünfzehn und zwanzig Zentimetern förmlich durchsiebt. Aus einem von ihnen erhob sich ein Kopf und verschwand, bevor Wes reagieren konnte. Er war stromlinienförmig, ähnlich dem eines Frettchens, mit roten Perlen an Stelle der Augen.
Es war wirklich wie in einer anderen Welt.
Verstohlen warf Wes einen Blick auf die anderen. Jeri Wilson blieb gelassen, Carrie Woodward schien jeden Augenblick damit zu rechnen, daß sie umgebracht würde, ohne deshalb besonders ängstlich zu wirken. Bevor sie aus der Zelle geführt wurden, hatte sie mit den anderen gebetet und mißbilligend auf Wes Dawson geblickt, der sich nicht beteiligt hatte.
Melissa und Gary sahen sich offenen Mundes um; sie hatten keine Angst, sondern waren geradezu entzückt. Pflanzen, Vögel, Tiere und undeutlich erkennbare Gegenstände, nachdem sie so lange in Zellen und Gängen eingeschlossen gewesen waren. Melissa wies auf etwas über ihnen. Es war fort, bevor Wes es sehen konnte, aber alle blieben stehen, um hinaufzuschauen.
Ungeduldig wandte Takpassih sich um. »Kommt!« Sie folgten ihm eilends, da sie nicht wollten, daß die FithpKrieger mit ihren Gewehrkolben nachhalfen, auch wenn das nicht brutal, sondern gleichsam verspielt zu geschehen pflegte, als trieben sie eine Kinderschar vor sich her.
Ein an die zehn Meter hoher Baum wuchs entlang der Schiffsachse. Ein großes grünes Blatt verlief spiralförmig um ihn herum. Drahtverspannungen sicherten den Stamm gegen seitlich einwirkende Beschleunigungskräfte.
Etwas streifte Wes’ Kopf. Er duckte sich, während der Krieger hinter ihm das Ding gleichmütig mit dem Rüssel beiseite scheuchte. Es flatterte davon und stieß einen musikalisch klingenden Fluch aus. Ein Vogel. Überall waren Vögel: Sie hatten lange Hälse und weit hinten ansetzende bunte Flügel von großer Spannweite, die an den Enden scharf nach hinten abknickten. Zu beiden Seiten des langen Halses saßen kleine gelbe Flecke. Verwundert sah sich Wes um. »Ist das eine Nahrungsquelle?« fragte er
»Unsere und eure.« Takpassih wies mit dem Rüssel auf ein Stück nackten Boden. Es mußte vor kurzem abgeräumt worden sein, denn darüber trieben Staub und Pflanzenreste. Der Lehrer sagte: »Jetzt habt ihr Pflanzen aus eurer eigenen Welt, die ihr hier anbauen könnt. Diesen Platz haben die Fithp für euch freigemacht.«
John Woodward trat an die Kisten. Zögernd nahm er eine Handvoll Erde und zerrieb sie zwischen den Fingern. »Guter Kansasboden«, sagte er. »Vielleicht leben wir lange genug, um hier noch was wachsen zu sehen.«
»Ihr werdet leben«, sagte Takpassih. Dabei warf er einen Blick auf den Bauern. »Leidest du darunter, deiner Heimat fern zu sein? Eines Tages wirst du mit uns landen.«
Woodward sagte nichts. Seine Augen glänzten.
»Fürs erste jedenfalls werdet ihr eure eigene Nahrung anbauen «, sagte Tashajämp. »In den Schalen auf den verschiedenen Stufen und hier.« Sie wies auf die mit Erde gefüllten Käfige. »Klettern ist etwas, was ihr wohl besser könnt als die Fithp.«
Sie hat schnell Englisch gelernt, dachte Wes. Aber ihre Haltung ist irgendwie eigentümlich. Warum nur? Wenn ich doch ihre Körpersprache verstehen könnte.
»Wir haben Saatgut«, sagte sie. »Ihr werdet das hier in Boden aus eurer Welt pflanzen.«
»Und wenn es nicht wächst?« wollte John Woodward wissen.
»Es wird wachsen. Notfalls mischen wir den Boden mit einem von einer anderen Welt. Es wird wachsen.«
»Und ist das wichtig?« wollte Wes wissen.
»Möglicherweise schon«, sagte sie. Sie warf einen Blick auf Takpassih. »Fangt jetzt an!«
»Ihr werdet Dinge anbauen, mit denen ihr euch ernährt.« Takpassih nahm ein Samentütchen aus einer der Schachteln. In seinen wie Taue aussehenden Greifgliedern wirkte es winzig. Er warf einen Blick darauf, riß es auf, und ein Teil der Saatkörner fiel heraus. Ein Krieger war darauf vorbereitet: Er haschte mit einem engmaschigen Netz nach der Wolke. Takpassih achtete nicht weiter auf den Zwischenfall. »In der Schwerelosigkeit ist Ackerbau schwierig. Die Samenkörner müssen fest in die Erde gedrückt werden, so, mit einem kleinen Werkzeug… nein, ihr braucht es nicht, eure Grifflinge sind klein genug. Wasser kommt von unten, aus der Wand. An der vorderen Wand findet ihr Werkzeug. Stöcke, die Pflanzen gegen den Schub halten, Werkzeug, um die Erde umzuwenden.«
John und Carrie Woodward betrachteten prüfend das Stück Beet und nahmen verschiedene Samentüten aus den Schachteln.
»Hier müßten Pflanzen größer werden als bei uns«, stellte John fest.
Verstohlen begannen Kinder sich mit erstaunt aufgerissenen Augen umzutun. Etwas wie ein Vogel schwirrte vorbei.
»Dorthin nicht!« rief Tashajämp. Sie bedeutete den Kindern, zur Gruppe zurückzukehren. »Ihr wartet hier! Stört nicht!«
Von hinten, aus dem Hain spiralig gewundener Bäume, ertönte das Murmeln von FithpStimmen wie eine Windharfe.
* * *
Der Herr der Herde hatte eine der hohen Säulenpflanzen erklommen. Wegen der geringen Schwerkraft konnte er beinahe wie die Erdlinge klettern. Als er sich umsah, mußte er über die sonderbare Perspektive schmunzeln.
In der vorderen Ecke des Gartens arbeiteten die gefangenen Erdlinge. Der Herr der Herde bewunderte ihre Flinkheit – immerhin waren sie frisch eingewiesene Erdfüßler. Sie kamen ihm durchaus zahm vor, wie sie da fremdartige Samen in fremden Boden senkten. Doch er konnte nicht länger über die beunruhigenden Berichte der Umerzieher hinweggehen. Es war mehr als genug, um ihm Kopfschmerzen zu bereiten.
Hier aber lenkten Gerüche ihn ab und linderten seine Sorgen: blühende Pflanzen und dumpfer Beisetzungsduft. Am Lebensende erwartete die Mitglieder der Ziehenden Fithp die Beisetzungsgrube und anschließend der Garten. Zwölf auf Winterheim verwundete FithpKrieger waren in der Beisetzungsgrube gelandet, nachdem Grifflingsschiff Sechs sie zur Bote zurückgebracht hatte.
Dieser Garten blühte unablässig. Dafür, daß in ihm die Jahreszeiten ineinander übergingen, sorgten genau abgestufte Intensitäten von Licht, Wärme und Feuchtigkeit. Die fremdartigen Gewächse von Winterheim mochten klimatische Veränderungen nötig machen. Er hoffte, ohne einen solchen Wandel auszukommen. Falls es den Erdlingen tatsächlich gelang, hier etwas wachsen zu lassen, würde Winterheim den Pflanzen und Tieren des Gartens eine Chance zum Überleben bieten.
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