Das war kein gruseliger Fund. Kinder starben laufend. Dies war ein harter Ort, an dem Mitleid für die Schwachen und Kranken fehl am Platz war.
Doch alle Kinder, die in Kieselsteins noch jungem Leben gestorben waren, waren wie sämtliche Toten in der Nähe der Hütten vergraben worden, um Aasfresser daran zu hindern, die Lebenden zu belästigen. Vielleicht hatten seine Leute es hier, wo nun der Maniokstrauch wuchs, begraben, ehe Kieselstein geboren wurde.
Aber der Schädel war seltsam filigran und leicht. Kieselstein wog ihn in der Hand. Er hatte einen starken Brauenwulst, von dem die Stirn fast waagrecht abfiel. Kieselstein fuhr sich selbst über den Kopf und verglich die Linienführung des Schädels mit der leichten Wölbung seiner Stirn. Dann erkannte er Bissmale in der kleinen Schädeldecke: präzise Löcher, die von den Zähnen einer Katze stammten – aber erst, als das Kind schon tot und auf der Ebene zurückgelassen worden war.
Kieselstein konnte natürlich nicht wissen, dass er die sterblichen Überreste von Bengel, Weits Bruder, in der Hand hielt, der nicht weit von hier gelebt hatte und gestorben war. Bengel war noch als Kind an Vitaminose gestorben, ohne viel von der Welt gesehen zu haben. Es wäre auch kaum ein Trost für Bengel gewesen, wenn er gewusst hätte, dass – eine Million Jahre nach dem Ende seines kurzen Lebens – sein kleiner Kopf in der Hand eines entfernten Großneffen gewiegt werden würde.
Und Bengel hätte die Landschaft, den Ort, an dem er einst gespielt hatte, auch kaum wieder erkannt.
Die geologische Struktur des Rift Valley – das Plateau, das Gestein, die Vulkanberge, das weite Tal selbst – hatte sich im Lauf der Zeit kaum verändert. Seit Weits Tagen war es jedoch ein karger, trockener Ort geworden. Vereinzelte Haine aus Akazien und wildem Lorbeer hatten das Dickicht und die Wäldchen der Vergangenheit ersetzt. Sogar das Grasland hatte sich verändert und wurde von ein paar feuerresistenten Pflanzenarten beherrscht. Zugleich waren die Tierpopulationen der Vergangenheit implodiert. Es war kein einziger Elefant in dieser Steppe mehr zu sehen, keine Antilope oder Giraffe. Es war, als ob das Leben hier eingebrochen wäre. Der Ort war tot. Weit wäre bei diesem Anblick erschrocken.
Dennoch hatten die sterblichen Überreste Bengels der Welt ihren Stempel aufgedrückt: Die im vergrabenen Schädel enthaltene Feuchtigkeit hatte genügt, um dem Maniokstrauch das Wachstum zu ermöglichen.
Achtlos schloss Kieselstein die Faust um den kleinen Schädel. Er zerbröselte, und die Splitter rieselten ins Loch zurück. Dann griff Kieselstein nach dem Grabwerkzeug; er musste die Wurzel noch ausgraben.
In diesem Moment sah er die Fremden.
Er duckte sich hinter einen Felsen und hielt den Atem an.
Es waren Jäger – das sah er sofort. Sie folgten einem alten Elefantenpfad. Elefanten gingen zum Wasser, und wo es Wasser gab, gab es auch viele Tiere, einschließlich der mittelgroßen Ungeheuer wie Damwild, das viele Leute vorzugsweise jagten.
Sie waren zu viert, alles Erwachsene: drei Männer und eine Frau. Die Jäger schritten weit aus und hatten den Körper dabei leicht vorgebeugt. Es war eine ausdauernde, keine elegante oder schnelle Gangart. Die Jäger hatten nichts von Weits Geschmeidigkeit. Dichte Bärte verbargen die Gesichter der Männer, und die Frau hatte das lange Haar mit einer Lederschnur zusammengebunden. Im Gegensatz zu Kieselstein waren diese Leute bekleidet: Sie hatten sich einfach Tierhäute umgehängt und mit Lederstreifen oder Gürteln geflochtener Rinde verschnürt. Kieselstein sah Bissspuren in der Bekleidung. Leder wurde mit den Zähnen gegerbt, und Kieselsteins dicker Brauenwulst hatte unter anderem die Funktion einer Verankerung für die Kiefer, die eine so harte Arbeit verrichten mussten.
Und sie waren bewaffnet: mit hölzernen Wurfspeeren und kürzeren, kompakten Stoßspeeren. An Hartholzknüppeln waren Steinspitzen mit Harz und Lederschnüren befestigt. Das waren Waffen für Riesen, die ein Mensch kaum hochzuheben, geschweige denn zu werfen vermocht hätte.
Sie waren robuste Leute wie Kieselsteins Art. Er sah jedoch die ockerfarbenen Muster, mit denen sie Gesichter, Hände und Arme versehen hatten. Während Kieselsteins Körperbemalung aus vertikalen Linien bestand – Balken, Streifen und Bänder –, waren diese Leute mit einer Art Schraffur aus dicken Linien verziert.
Sie waren Fremde. Das sah man an der Körperbemalung. Und Fremde bedeuteten Ärger. Dies war ein Gesetz, das die gleiche Gültigkeit besaß wie der Aufgang der Sonne und des Monds.
Kieselstein wartete, bis die Neuankömmlinge hinter einem Akazienhain verschwunden waren. Dann rannte er so leise, wie der kompakte Körper es ihm erlaubte, nach Hause zurück. Die Maniokknollen, die er ausgegraben hatte, ließ er zusammen mit dem Grabstock zurück.
Kieselsteins Zuhause war eine Art Dorf aus vier großen Hütten, die in einem annähernden Rechteck um eine Lichtung angeordnet waren. Und doch war es kein Dorf, weil die Bewohner eine etwas andere Lebensweise als die Menschen hatten.
Kieselstein blieb keuchend auf der Lichtung stehen. Es war niemand draußen. Neben einer Hüttentür schwelte ein Feuer. Der zertrampelte Boden war mit Knochen, Pflanzenresten, Werkzeugen, Matratzen aus Laub und Gras, Rindenstücken, Holzsplittern, Keilen, zerbrochenen Speeren und Lederfetzen übersät. Es war eine regelrechte Müllkippe.
Die Hütten waren primitiv und hässlich, erfüllten aber ihren Zweck. Sie bestanden aus kräftigen jungen Stämmen, die annähernd kreisförmig in den Boden gerammt worden waren. Die Lücken zwischen den Stämmen hatte man dann mit gespaltenem Schilfrohr, überlappenden Blättern, Binsen und Rinde ausgefüllt. Zuletzt waren die Stämme an den Spitzen zusammengezogen und überlappend festgebunden worden. Das war eine Technik, die Capo bekannt vorgekommen wäre, denn vor fünf Millionen Jahren hatte er seine Baumwipfel-Nester schon auf die gleiche Art gebaut: Jede erzwungene Neuerung baute auf alten Techniken auf.
Die Hütten waren alt. Die Leute hatten schon seit Generationen hier gelebt. Im Boden unter Kieselsteins Füßen stapelten sich die Knochen seiner Vorfahren. Die Leute fühlten sich hier sicher. Das war ihr Ort, ihr Land.
Doch Kieselstein wusste, dass das alles sich vielleicht bald ändern würde.
Er hob den Kopf zum ausgewaschenen Himmel. »U-lu-lu-lu-lu! U-lu-lu-lu-lu…!« Das war ein Ruf der Gefahr und des Schmerzes, der erste Ruf, den ein Kind nach dem ›Fütter-mich‹-Schrei lernte.
Die Leute kamen aus den Hütten gerannt und aus der Umgebung, wo sie als Sammler und Jäger unterwegs gewesen waren. Sie scharten sich besorgt um Kieselstein. Es waren ihrer zwölf: drei Männer, vier Frauen, drei ältere Kinder – einschließlich Kieselstein selbst – und zwei Babys, die von ihren Müttern ängstlich festgehalten wurden.
Er versuchte ihnen zu sagen, was er gesehen hatte. Er deutete in die Richtung, wo er die Fremden gesehen hatte und rannte ein paar Schritte auf und ab. »Andere! Andere, andere, Jäger!« Er vollführte ein realistisches Schauspiel, wobei er gestikulierte, posierte und mit geschwellter Brust den Gang starker Jäger imitierte. Er stellte sogar mit der Mimik dar, wie sie den Leuten mit ihren mächtigen Fäusten den Schädel zertrümmerten.
Seine Zuhörer wurden ungeduldig. Sie wandten sich ab und schienen sich wieder ihren Verrichtungen wie Sammeln, Essen oder Schlafen widmen zu wollen. Ein Mann beobachtete Kieselsteins Darbietung jedoch aufmerksamer. Er war ein bulliger Typ, der noch kräftiger gebaut war als die meisten anderen. Seine Nase war in der Kindheit durch einen Unfall verunstaltet worden, wobei der Knorpel der großen fleischigen Nase zertrümmert worden war. Dieser Mann, Plattnase, war Kieselsteins Vater.
Kieselsteins Sprache war jedoch begrenzt. Sie bestand lediglich aus einer Aneinanderreihung konkreter Wörter ohne Grammatik und Syntax. Auch eine Million Jahre nach Weit war Sprache hauptsächlich eine soziale Fähigkeit, die nur für Klatsch und Tratsch verwendet wurde. Um Details und komplexe Informationen zu vermitteln, musste man sich mit Wiederholungen und endlosen Umschreibungen behelfen und dies mit Mimik, Gestik und ›Theater‹ unterlegen. Es fiel den Erwachsenen schwer, den Sinn von Kieselsteins Botschaft zu begreifen. Sie selbst sahen keine Fremden. Er log vielleicht oder übertrieb: Er war schließlich noch ein Kind. Der einzige Gradmesser für den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen waren die Leidenschaft und Energie, die er in seine Vorführung legte.
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