Und auf der überwucherten Wasseroberfläche des Sees machte sie Wasservögel aus. Der Schwarm saß friedlich in der Mitte des Sees, wo er vor den hungrigen Räubern des Landes sicher war.
Mutter lächelte. Die Vögel waren genau da, wo sie sie haben wollte. Sie machte kehrt und entfernte sich vom schlammigen Ufer des Sees.
Im Alter von dreißig Jahren war Mutters Körper noch genauso geschmeidig und straff, wie er es in der Jugend gewesen war. Aber der Bauch zeigte Streifen von der Geburt ihres einzigen Kinds, eines Sohnes, und die Brüste hingen herunter. Dafür hatte sie ein pralles Hinterteil; das war eine Anpassung an die langen Dürreperioden, um Wasser im Fett zu speichern. Die Gliedmaßen hatten sehnige Muskeln, und der Bauch war nicht wie bei vielen Leuten durch Unterernährung angeschwollen. Sie war offensichtlich recht lebenstüchtig.
Jedoch vermochte sie sich nicht daran zu erinnern, wann sie zum letzten Mal glücklich gewesen war. Nicht einmal als Kind, als sie unbeholfen gewesen war, wenig geredet und Schwierigkeiten gehabt hatte, sich einzufügen. Nicht einmal als sie einen gesunden, strammen Sohn zur Welt gebracht hatte.
Sie sah zu viel.
Die Dürre zum Beispiel. Die Wolken waren verschwunden, sodass die Sonne den ganzen Tag vom Himmel brannte. Sie trocknete das Land aus und ließ das Wasser verschwinden, sodass die Tiere starben und die Leute wiederum Hunger leiden mussten. Also mussten die Leute wegen der Wolken hungern. Was sie aber nicht wusste, war, weshalb die Wolken überhaupt verschwunden waren. Noch wusste sie es nicht.
Das war ihr Talent: Sie sah Muster und Zusammenhänge, Geflechte von Ursachen und Wirkungen, die sie faszinierten und zugleich verwirrten. Ihre Gabe, Kausalzusammenhänge zu erkennen, verschaffte ihr allerdings keine Lebensfreude. Stattdessen wurde sie von Misstrauen geradezu zerfressen. Aber es half ihr manchmal dabei, durchs Leben zu gehen – so wie heute.
Sie kam zu einem Affenbrotbaum und betrachtete seine knorrigen Äste. Sie wusste, was sie machen wollte: einen Bumerang, eine gekrümmte Wurfwaffe. Also prüfte sie die Äste und Ansätze und suchte eine Stelle, wo die Maserung des Holzes und die Wachstumsrichtung der endgültigen Form der Waffe entsprachen, wie sie sie vorm geistigen Auge sah.
Schließlich fand sie einen schlanken Ast, der geeignet schien. Mit einem Ruck brach sie ihn dicht über dem Punkt ab, wo er aus dem Baum wuchs. Dann setzte sie sich in den Schatten des Affenbrotbaums, schälte mit dem Steinwerkzeug die Rinde ab und bearbeitete das Holz. Dabei drehte sie die steinerne Schneide immer wieder in der Hand, um alle Kanten gleichmäßig zu nutzen. Dieses Werkzeug – das weder eine Axt noch ein Messer oder ein Schaber war – war im Moment ihr Lieblingsutensil. Weil sie jedes Werkzeug, das sie nicht an Ort und Stelle zu fertigen vermochte, hätte transportieren müssen, hatte sie dieses eine Werkzeug für viele Aufgaben gefertigt und es bereits ein paar Mal nachbearbeitet.
Bald hatte sie einen glatten, angewinkelten Stock mit einer Länge von ungefähr dreißig Zentimetern angefertigt, der an einer Seite flach und an der anderen abgerundet war. Sie wog den Bumerang in der Hand, prüfte mit einem in langer Praxis gewonnenen Urteilsvermögen die Balance und das Gewicht und schabte noch etwas überschüssiges Material ab.
Dann trat sie aus dem Schatten des Affenbrotbaums hinaus und ging am schlammigen Seeufer entlang. Sie fand die Stelle wieder, wo sie vor ein paar Tagen ein Netz aus geflochtenen Rindenfasern versteckt hatte. Das Netz war noch unbeschädigt. Sie schüttelte den Staub aus und die Käfer, die die trockenen Fasern annagten.
Nun spannte sie das Netz zwischen zwei dürre, günstig stehende Affenbrotbäume, dass es dem See zugewandt war. Sie hatte diesen Ort gerade wegen der Affenbrotbäume ausgewählt.
Dann ging sie um den See zurück, bis sie sich im rechten Winkel zum Netz befand. Sie ergriff den Wurfstock und übte mit heraushängender Zunge die Bewegung des Wurfs, den sie ausführen würde. Sie hätte nur diese eine Chance und musste es gleich beim ersten Mal richtig machen…
Ein dumpfer Schmerz pulsierte in ihren Schläfen wie Donner in fernen Bergen.
Sie verlor das Gleichgewicht und verzog vor Ärger über diese Beeinträchtigung das Gesicht. Der Schmerz selbst war auszuhalten, aber er war nur ein Vorbote dessen, was noch kommen sollte. Die Migräne war eine unbarmherzige Plage, die sie häufig heimsuchte, und es gab auch nichts, was sie dagegen zu tun vermochte. Es gab kein Heilmittel und nicht einmal einen Namen dafür. Aber sie wusste, dass sie ihre Aufgabe erledigen musste, ehe die Schmerzen es unmöglich machten. Andernfalls würden sie und ihr Sohn heute Hunger leiden müssen.
Sie ignorierte das Hämmern im Kopf, nahm wieder die Wurfstellung ein, hob den Stock und warf ihn kraftvoll und präzise. Der wirbelnde Stock beschrieb einen schönen hohen Bogen über dem See, wobei die hölzernen Flügel mit einem leisen Rauschen wirbelten.
Die dasitzenden Wasservögel wurden unruhig und stießen gereizte Rufe aus, und als der Stock in der Luft wendete und auf sie niederging, gerieten sie in Panik. Mit rauschendem, schwerem Flügelschlag erhoben die Vögel sich in die Lüfte und flohen vom See – und die tief fliegenden Tiere an den Rändern des Schwarms flogen direkt in Mutters Netz. Grinsend rannte sie um den See zurück, um die Beute einzusammeln.
Zusammenhänge. Mutter warf den Bumerang, der die Vögel erschreckte, die ins Netz flogen, weil Mutter es dort aufgespannt hatte. Dies war ein anschauliches Beispiel für Mutters Denken in kausalen Verknüpfungen.
Doch mit jedem Schritt, den sie machte, wurden die Kopfschmerzen schlimmer. Das Gehirn schien im großen Kopf zu rasseln, und die kurze Freude über den Erfolg wurde wie immer zunichte gemacht.
Mutters Leute lebten in einem Lager in der Nähe eines ausgetrockneten, erodierten Kanals, der in eine Schlucht mündete. Sie hatten Unterkünfte an den Klippen errichtet, bloße Sonnensegel aus Tierhaut- oder Rattanplanen, die auf Holzgestelle gespannt waren. Im Gegensatz zu Kieselsteins längst untergegangener Siedlung war dies keine feste Ansiedlung. Dafür gab das Land nicht genug her. Dies war die vorläufige Heimat nomadischer Jäger und Sammler, die es bei der Verfolgung ihrer Nahrungsquelle hierher verschlagen hatte. Die Leute waren seit einem Monat hier.
Der Standort hatte allerdings auch seine Vorteile. Es floss ein Fluss vorbei, das hiesige Gestein eignete sich gut für die Werkzeugfertigung, und es war auch ein Wald in der Nähe, der als eine Quelle für Feuerholz, Rinde, Laub, Lianen und Ranken für Kleidung, Netze und andere Werkzeuge und Gegenstände diente. Und der Ort war auch ein guter Hinterhalt für die Tiere, die nichts ahnend zur Schlucht kamen, um dort zu trinken. Trotzdem war die Ausbeute der Gegend schlecht gewesen. Das Lager war desolat, und die unterernährten Leute vermochten sich kaum noch zu etwas aufzuraffen. Sie würden wahrscheinlich bald weiterziehen müssen.
Mutter stolperte heimwärts. Drei Wasservögel hatte sie sich an einer Lederschnur um die Schultern gehängt. Die Kopfschmerzen waren nun akut, und jede Oberfläche schien gleißend hell zu sein und in seltsamen Farben zu leuchten. Das menschliche Gehirn hatte sich im letzten Jahrtausend vor der Geburt von Mutters Urahnin Harpune spektakulär aufgebläht. Diese hastige Neuverkabelung hatte unerwartete Vorzüge, wie Mutters Fähigkeit zu strukturiertem Denken und Handeln, aber auch Nachteile wie die lästige Migräne.
»… Hey, hey! Speer Gefahr Speer!«
Sie schaute sich trübe um.
Zwei jüngere Männer starrten sie an. Sie trugen um den Körper gewickelte Häute, die sie mit Sehnen festgebunden hatten. Beide hielten sie grob geschnitzte Holzspeere mit feuergehärteten Spitzen in der Hand. Sie hatten die Speere gegen eine Ochsenhaut geschleudert, die sie über die Äste eines Baums gespannt hatten. Mutter wäre ihnen, abgelenkt durch die Schmerzen und die seltsamen Lichter, beinahe in die Wurfbahn gelaufen.
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