In der ersten Woche hätte die Losung >Rücken frei< noch das Blatt wenden können. Aber nun zeigte es sich schnell, daß diese Aktion als Offensivmaßnahme versagt hatte. Wert hatte sie nur in der Defensive, man konnte die noch nicht verseuchten Gebiete halten, ja es ließen sich sogar Gegenden, die >angesteckt<, aber noch nicht ganz unterjocht waren, säubern. Das galt für Washington selbst, für Philadelphia und New Brooklyn, wobei ich mit guten Ratschlägen dienen konnte. Die ganze Ostküste verwandelte sich aus einem >roten< in einen >grünen< Abschnitt.
Doch als die Landesmitte auf der Karte allmählich markiert wurde, füllte sie sich mit roten Pünktchen oder genauer rubinfarbenen Lichtern, denn die Karte mit den Stecknadeln war durch eine riesige elektronische Generalstabskarte im Maßstab 1 : 500 000 ersetzt
worden, die eine Wand des Beratungsraums bedeckte und die als Relais von einem Original in den unterirdischen Gewölben des Neuen Pentagons >gespeist< wurde.
Als hätte ein Riese in der Mitte rote Farbe ein Tal hinunterlaufen lassen, zerfiel das Land in zwei Teile. Gelbe Säume begrenzten beiderseits den Streifen, der von den Parasiten besetzt gehalten wurde; diese Zonen waren die einzigen Stellen, an denen sich etwas ereignete. Hier konnte man durch Bildempfang von Stationen des Feindes wie von den freien Sendern Einsicht in die Verhältnisse bekommen. Ein solcher Saum begann bei Minneapolis, machte westlich um Chicago einen Bogen, umging St. Louis von Osten und schlängelte sich dann durch Tennessee und Alabama zum Golf. Der zweite Streifen bahnte sich einen Weg durch die großen Ebenen und kam in der Nähe von Corpus Christi wieder heraus. El Paso war Mittelpunkt eines rotschimmernden Flecks, der mit dem befallenen Hauptgebiet nicht in Verbindung stand.
Ich fragte mich, was in diesen Grenzbezirken vorging. Im Augenblick war ich allein. Das Kabinett hielt eine Sitzung ab, und der Präsident hatte den Alten mitgenommen. Rexton und sein Stab waren schon vorher gegangen. Ich blieb, weil ich nicht im Weißen Haus umherirren wollte, hing meinen griesgrämigen Gedanken nach und beobachtete, wie gelbe Lichter rot aufblinkten und - weniger häufig - rote Lichter auf gelb oder grün umgeschaltet wurden.
Ich hätte auch gern gewußt, wie sich ein Besucher ohne Rang und Namen hier ein Frühstück verschaffen konnte. Seit vier Uhr früh war ich auf den Beinen und hatte bis jetzt nur eine Tasse Kaffee erhalten, die mir der Kammerdiener des Präsidenten gebracht hatte. Noch dringender suchte ich einen Waschraum. Schließlich wurde ich so verzweifelt, daß ich der Reihe nach die einzelnen Türen zu öffnen versuchte. Die ersten beiden waren versperrt, die dritte führte zur gewünschten Örtlichkeit.
Als ich zurückkam, fand ich Mary vor.
Ich blickte sie überrascht an. »Ich dachte, du wärst beim Präsidenten.«
Sie lächelte. »Man hat mich fortgejagt. Der Alte hat mich abgelöst.«
»Mary, ich wollte schon lange mit dir reden, und jetzt habe ich das erste Mal Gelegenheit dazu. Ich glaube, ich ... nun jedenfalls hätte ich nicht ... d.h. ich meine, nach der Erklärung des Alten ...« Ich hielt in-ne, weil meine sorgfältig vorbereitete Ansprache zum Teufel war. »Jedenfalls hätte ich nicht so zu dir sprechen dürfen«, schloß ich kläglich.
Sie legte mir die Hand auf den Arm. »Liebster Sam, mach dir keine Sorgen. Was du gesagt und getan hast, ist von deinem Standpunkt aus durchaus verständlich. Für mich allein ist wichtig, was du tatsächlich für mich getan hast. Alles übrige spielt keine Rolle - außer daß ich wieder glücklich bin, weil ich weiß, daß du mich nicht verachtest.«
Sie hatte mir schon einmal einen Kuß gegeben. Diesmal aber tat sie es richtig. Ich hatte das Gefühl, in einen warmen, goldenen Nebelschleier zu versinken, aus dem ich nie mehr aufzutauchen wünschte. Schließlich mußte ich mich losreißen und keuchte: »Ich denke, ich muß mich jetzt eine Minute hinsetzen.«
»Ach, Sam«, sagte sie und ließ mich los.
»Mary, meine liebe Mary, könntest du mir wohl einen Gefallen tun?« flötete ich kurz darauf.
»Ja?« fragte sie eifrig.
»Verrate mir in drei Teufels Namen, wie man hier ein Frühstück bekommen kann. Ich bin am Verhungern.«
Einen Augenblick schien sie sprachlos, dann antwortete sie: »Aber gewiß!«
Wie sie das Kunststück fertigbrachte, weiß ich nicht, vielleicht war sie in die Speisekammer des Weißen Hauses eingebrochen und hatte sich selbst bedient. Jedenfalls kehrte sie in wenigen Minuten mit belegten Broten und zwei Flaschen Bier zurück. Ich verputzte gerade meine dritte Schnitte mit Büchsenfleisch, als mir etwas einfiel: »Mary, wie lange - glaubst du wird die Besprechung der Herren dauern?«
»Oh, mindestens zwei Stunden. Warum?«
»In diesem Falle«, erwiderte ich, den letzten Bissen hinunterschlingend, »haben wir genügend Zeit, uns fortzuschleichen und ein Standesamt aufzusuchen, ehe uns der Alte vermißt.«
Sie schwieg und starrte auf die Luftperlen in ihrem Bier. »Nun?« drängte ich.
Sie hob die Augen. »Wenn du es wünschst, werde ich es tun. Ich drücke mich nicht. Aber lieber wäre es mir, wir warteten noch ein wenig.«
»Du willst mich also nicht heiraten?«
»Sei nicht böse, Liebster. Ich gehöre dir - mit und ohne Ehe vertrag. Aber du kennst mich noch nicht richtig. Wir müssen erst noch besser miteinander vertraut werden; du könntest deine Meinung noch ändern.«
»Das ist nicht meine Art.«
Ich muß ein verdrossenes Gesicht gemacht haben. Sie legte ihre Hand auf meine und sagte ernst: »Sam, blicke auf die Karte.«
Ich wandte den Kopf. Rote Lichter wie immer, oder noch mehr.
Die Gefahrenzone um El Paso hatte sich ausgedehnt. Mary fuhr fort: »Erledigen wir zuerst dieses Problem, Liebster. Wenn du dann immer noch den Wunsch hast, frage mich erneut.«
Als die Besprechung vorüber war, beschlagnahmte mich der Alte und nahm mich zu einem Spaziergang mit. Ja, zu einem Spaziergang, obwohl wir nur bis zu einer Bank gingen. Dort setzte er sich nieder, bastelte ausgiebig an seiner Pfeife herum und blickte finster drein.
»Der Gegenschlag setzt um Mitternacht ein«, sagte er und fügte sogleich hinzu: »Wir werden alle wichtigen Punkte in der roten Zone überfallen Sender, Zwischenstationen, Zeitungsredaktionen und Fernschreiber der Western Union!«
»Das hört sich gut an«, erwiderte ich. »Wieviel Mann sind dafür vorgesehen?«
Er antwortete nicht. Statt dessen meinte er: »Mir gefällt das ganz und gar nicht.«
»Warum nicht?«
»Sieh, mein Junge, der Präsident trat vor den Fernsehapparat und befahl, daß jeder sein Hemd ablegen solle. Darauf stellten wir fest, daß die Botschaft das befallene Gebiet nicht erreicht hat. Was folgt daraus?«
Ich zuckte die Achseln. »Wir greifen an, vermute ich.«
»Soweit ist es noch nicht. Überlege einmal: inzwischen sind mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen; was hätte geschehen müssen und ist es nicht?«
»Soll ich das wissen?«
»Allerdings, wenn du je selbständig etwas leisten willst. Hier«, er reichte mir den Combo-Schlüssel für einen Wagen. »Fahre schleunigst nach der Stadt Kansas und sieh dich dort um. Laß dich nicht erwischen. Eine halbe Stunde vor Mitternacht mußt du wieder hier sein. Und nun ab!«
So machte ich mich auf den Weg. Der ComboSchlüssel gehörte zu dem Flugwagen, mit dem wir hierhergekommen waren; ich holte ihn an der RockCreek-Plattform ab. Es herrschte nur geringer Verkehr, und ich erwähnte das dem Mann gegenüber, der die Wagen abfertigte. »Fracht- und Handelsfahrzeuge müssen auf dem Boden bleiben«, antwortete er. »Ausnahmezustand - besitzen Sie eine militärische Erlaubnis?«
Wenn ich den Alten anrief, hätte ich eine bekommen können, aber er liebte es nicht, mit Kleinkram belästigt zu werden. So meinte ich: »Überprüfen Sie den Combo.«
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