10. September 2375
Higby V
Beinah hätten es Jan und ich nicht geschafft, die Pressemitteilung abzuschicken. Irgendein blöder Dussel hatte vergessen, die Batterie des Elektrorenners aufzuladen, den wir benutzten, um zwischen der Stadt und unserem Lager zu pendeln. Wir waren noch zwölf Kilometer von der Stadt entfernt, als der Motor ein leises Seufzen von sich gab und sich dann ausschwieg. Ich öffnete die Haube und versuchte, männliche Kompetenz zu zeigen, aber ich konnte überhaupt nichts tun, und das wußten wir beide. „Die Batterie ist leer!“ rief mir Jan zu. „Verschwende keine Zeit damit, am Motor herumzubasteln.“
„Was machen wir jetzt? Den Rest des Weges zu Fuß gehen?“
„Es fängt an zu regnen“, sagte sie. „Welch nette Überraschung!“
„Wir bleiben am besten hier. Vielleicht kommt jemand vorbei.“
Wir warteten eine halbe Stunde, ganz allein im Zentrum der Leere. Ich nutzte meine große Chance nicht aus, mich ein wenig mehr um die körperliche Seite meiner Beziehung zu Jan zu kümmern. Einerseits, weil der endlose graue Regenguß, der auf diesem Planeten das charakteristische Wetter darstellt, meine Leidenschaft ganz erheblich abgekühlt hatte. Und andererseits: Selbst wenn ich zufällig in der Stimmung gewesen wäre — ich wollte mich nicht mit Dingen beschäftigen, die das Risiko mit sich gebracht hätten, einen vorbeikommenden Wagen nicht zu bemerken und somit zu verpassen. Der Verkehr auf dieser Straße ist nicht so dicht, als daß gestrandete Reisende es sich leisten könnten, einen möglichen Retter vorbeiziehen zu lassen. Hauptsächlich jedoch wegen dieser seltsamen und altmodischen Einstellung, die plötzlich über mich kam: daß es schlechtes Benehmen sei, eine möglicherweise ziemlich ernste Romanze in einem am Rand einer matschigen Straße liegengebliebenen Renner zu beginnen. Nicht daß Higby V irgendwo angenehmere Umgebungen aufzuweisen hätte — ich empörte mich vielmehr über die Unanständigkeit im allgemeinen. Manchmal kann ich ziemlich verstockt sein. Ich glaube, das weißt du.
Anstatt also wollüstig übereinander herzufallen, saßen wir keusch und züchtig Seite an Seite und unterhielten uns. Es kommt mir erst jetzt in den Sinn, daß Jan meinen plötzlichen Puritanismus vielleicht nicht geteilt hat, aber jetzt ist es zu spät, um den Fehler wiedergutzumachen. Wir sprachen hauptsächlich darüber, wie wir zur Archäologie gekommen sind. Sie fragte mich danach, und ich sagte: „Weil ich die Vorstellung verabscheue, irgend etwas könnte verschwendet werden. Ich meine, daß irgend etwas, was für jemanden einmal wichtig und bedeutend und wertvoll war, einfach vergraben liegt und vergessen worden ist. All diese Dinge möchte ich bergen, auf daß sie erneut für irgend jemanden wichtig sind… und sie sich somit nicht vernachlässigt vorkommen.“
Und ich erzählte ihr die Geschichte von der verlorenen Statuette.
Erinnerst du dich, Lorie? Wie könntest du es vergessen haben! Wir waren sechs Jahre alt. Vater hatte sich auf einem Planeten aufgehalten, an dessen Namen ich mich nicht mehr entsinne — im Epsilon-Eridani-System —, und dort eins seiner Immobiliengeschäfte abgewickelt. Und er brachte uns zwei von dort stammende Statuetten als Spielzeuge mit, eine für dich, und eine für mich. Es waren Darstellungen von Haustieren jenes Planeten; sie bestanden aus einer Art Porzellan und fühlten sich so außerordentlich weich und geschmeidig an, daß man sie gar nicht mehr loslassen wollte, hatte man sie erst einmal berührt. Du hast deine Statuette in der Nähe deines Bettes im Krankenhaus aufbewahrt, und ich trug meine in meiner Tasche bei mir. Außer wenn ich zu Bett ging: Dann stand sie auf dem Nachtschränkchen, so daß ich sie auch des Nachts sehen und anfassen konnte. Ich liebte dieses kleine Porzellantier mehr als alles andere, was ich besaß, und dann, eines Tages, nahm Vater mich mit, damit ich beim Bau eines neuen Gebäudes zusehen konnte, das er in Alaska errichtete. Ich stand auf diesem Balkon und blickte zum Fundament hinab, mit der Statuette in der Hand, und dann nieste ich oder so, und sie fiel hinunter. Ich begann zu schreien und bat Vater, sie mir zurückzuholen, doch die Baumaschinen waren zu schnell. In den nächsten fünf Minuten schütteten sie Tonnen von Beton in das Loch. „Sag ihnen, sie sollen sie ausgraben!“ verlangte ich von Vater. „Das Haus gehört dir. Du kannst ihnen das befehlen. Ich will sie zurück!“ Er lachte und sagte, es würde Tausende von Krediteinheiten kosten, unter all dem Beton nach meinem Spielzeug zu suchen, und ob ich wollte, daß er soviel Geld verschwende? Außerdem, sagte er, würden in einer Million Jahren Archäologen hierher kommen und die Ruinen dieses Gebäudes untersuchen und mein Spielzeug finden und in einem Museum ausstellen. Ich wußte nicht, was ein Archäologe war, und ich wollte nicht, daß man meine Statuette in einer Million Jahren ausgrub. Ich wollte sie sofort zurück, und in meinem Wutanfall gebärdete ich mich so wild, daß sie mich fortbringen und mir ein Medikament geben mußten, um mich zu beruhigen. Und als du hörtest, was passiert war, hast du gesagt: „Gut, wenn Tom seine Statuette nicht mehr hat, dann will ich meine auch nicht mehr.“ Und du hast deine Krankenschwester gebeten, sie einem anderen kleinen Mädchen zu geben, und sie erfüllte deine Bitte. Was eine deiner ganz typischen, mitfühlenden und geschickten Reaktionen war, denn ich war wie verrückt vor Neid, daß du dein Spielzeug noch hattest und meins verlorengegangen war. Ich vermute, eine gewöhnliche, gutherzige Schwester hätte ihrem Bruder einfach ihr eigenes Spielzeug gegeben, aber du hast dich nie auf gewöhnliche Weise verhalten. Und was du getan hast, war genau richtig: Mit einem Ersatz für meinen Verlust wäre ich nicht zufrieden gewesen, aber daß du deine Statuette nun ebenfalls nicht mehr hattest, das nahm dem ganzen Vorfall irgendwie den Schmerz.
Später fand ich heraus, was Archäologen sind. Und begann damit, Museen zu besuchen, um mir die Dinge anzusehen, die sie ausgegraben hatten — einschließlich der vielen Spielzeuge, die vor fünf- oder zehn- oder fünfzigtausend Jahren von anderen kleinen Jungen verloren worden waren. Und es traf mich wie ein Schlag: Wie traurig ist es doch, daß diese Dinge verlorengegangen sind und niemanden mehr haben, der sie mag und sich um sie kümmert. Und wie schön ist es, daß sich jemand die Mühe macht, sie nach all den Jahren wiederzufinden. Später dachte ich: Wie traurig ist es doch, daß Zivilisationen verlorengegangen sind, ganze Brocken der Vergangenheit, Könige und Dichter und Maler, Gebräuche und Religionen und Skulpturen und Küchengeschirr und Werkzeuge, und wie schön ist es, daß sich jemand die Mühe macht, dies nach all den Jahren wiederzufinden. Dann faßte ich den Entschluß, zu einem dieser Finder zu werden. Was unseren Vater natürlich erschreckte, da er bereits entschieden hatte, daß ich zu einem Immobilien-Magnaten werden sollte, genau wie er. „Archäologie? Was kann die Archäologie jemandem wie dir schon bedeuten? Ich habe ein Königreich, das auf dich wartet, Tom!“ Ich antwortete, ich sei mehr an Königreichen interessiert, die nicht mehr existierten. Ich konnte ihm eigentlich nie richtig klarmachen, daß der ursächliche Anlaß zu all diesem ein Spielzeugtier von Epsilon Eridani gewesen ist.
Als ich mit der Schilderung zu Ende war, sagte Jan: „Als du neulich die Kugel ausgegraben hast — dieses wundervolle Spielzeug —, war es so ähnlich, als hättest du deine verlorene Statuette wiedergefunden?“
„Ja. Genau so. Ich hab’ eine ganze Welt neu entdeckt, Jan. Darum geht es mir hierbei vor allem.“
„Angenommen, dein Vater hätte die Baumaschinen angehalten und seine Männer beordert, dein Spielzeug aus dem Beton zu graben? Glaubst du, du wärst dann heute auf Higby V?“
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