»Nein, mein Hasenherzchen«, sagte Isolde und kam im Morgenrock näher, »da darfst du noch nicht raus. Schau, hier ist dein Kästchen, da kannst du Pipi machen, und ... o Gott!«
Sie hatte Nero gesehen und erstarrte. »Wie kommst du denn in den Garten?« rief sie und öffnete die Terrassentür. Nero wurde natürlich sofort wach, machte einen gewaltigen Buckel, gähnte, rieb sich an Isoldes nacktem Bein und stolzierte mit steil hochgerecktem Schwanz ins Wohnzimmer.
»Her mit dem Frühstück«, forderte er, und Isolde kniete sich auf den Boden, drückte und streichelte ihn und konnte es nicht fassen: »Mein kleines Äffchen war ganz allein in der Kälte! Jetzt aber schnell warme Milch!« Und sie lief aufgeregt in die Küche. Nero dachte: »Grundguter Himmel, worüber sie sich nur immer aufregt! Nun mal rasch die Milch warm gemacht, bitte.«
Und das tat Isolde dann auch. Sie bereitete aus Hackfleisch, Weißbrot und Milch ein leckeres Essen, und da saßen sie nun wieder, der schwarze Kater und sein rundes Mädchen, dessen größte Freude ja das Essen war, und Isolde sah ihnen gerührt zu und seufzte: »Ach, ihr kleinen Engelchen.«
Engelchen?
Um die Wahrheit zu sagen: diese beiden waren keine Engelchen. Nicht einmal Rosa. Gut, zugegeben, Rosa war ein bißchen dumm, und da kann man leicht brav sein, wenn einem sowieso nichts einfällt, was man anstellen könnte, und wenn man am liebsten a) frißt und b) schläft. Aber Rosa entwickelte sich in den nächsten Monaten zu einer gefürchteten Jägerin. Stundenlang konnte sie geduldig auf der Lauer liegen, scheinbar schlafend, nur ein bißchen blinzelnd, nur die Ohren wackelten ein wenig, und dann — zack! mit einem einzigen Sprung, mit einem einzigen Hieb hatte sie die Maus, auf die sie so lange gewartet hatte. Leider fing sie manchmal auch einen kleinen Vogel, der nicht schlau und nicht schnell genug war, und alles, was sie fing, fraß sie ganz und gar auf. Und Nero ... der erkämpfte sich vom ersten Tag an durch Gardinenzerreißen und Geschrei den Weg ins Freie. Er ging und kam, wie es ihm paßte, und es dauerte nicht lange, da war er der Chef der ganzen Gegend.
Wie soll ich das erklären ... er wußte einfach, wie man sich Respekt verschaffen mußte. Er wußte, wann es mit Säuseln besser ging und wann mit gezielten Ohrfeigen, und er hatte eben so eine Art, daß niemand ihm widerstehen oder widersprechen konnte. Die alte, schwarzweiß gefleckte Klara von Oma Riegert hatte so einen eleganten Kater noch nie gesehen und wäre gern etwas jünger gewesen; der weiße Timmi von Frau Brettschneider rannte weg, sobald er Nero nur sah; der kleine Amadeus von Hahns ließ immer ein paar Brocken Futter für Nero auf seinem Teller, damit er keinen Ärger mit ihm bekam, die silbergraue Karthäuserin von Fräulein von Kleist, die niemals ins Freie durfte und fast alle Katzenschönheitspreise gewonnen hatte, sah von ihrer Fensterbank aus sehnsüchtig nach Nero; mit Kagels Kater Karl verband Nero schon bald eine schöne Männerfreundschaft: gemeinsam spazierte man nachts durch die Gärten oder über die Dächer und besprach, was wichtig war. Wenn Kagels verreisten — und das war oft der Fall — saßen Karl und Nero ganze Nächte lang in den tiefen Ledersesseln, rauchten auch schon mal eine Montecristo Nr. 1 aus Kagels Zigarrenkiste oder liefen zusammen über die Klaviertasten und machten prächtige moderne Musik.
Schräg gegenüber wohnte ein ziemlich starker Kater, der Tiger hieß und der Lehrerin gehörte. Mit ihm hatte Nero noch die meisten Schwierigkeiten gehabt. Bei der ersten Begegnung hatte ihm Tiger mit angelegten Ohren und gesträubtem Fell ein »Verpiß dich!« entgegengefaucht. Nero sah ihn damals nur an und sagte: »Tiger, ich sehe, du hast Mumm in den Knochen und bist nicht so eine verzärtelte Kreatur wie das, was sonst hier rumläuft. Wir beide könnten uns jetzt bis aufs Blut prügeln, was für dich gar nicht gut ausgehen würde, oder wir sagen: du nicht in mein Revier, ich nicht in deins, paletti?«
Tiger fauchte noch mehr und sagte: »Ach, ich werd nicht mehr. Gerade angekommen, und da willst du hier auch schon ein Revier haben?«
Schlechtgelaunt und voller Lust darauf, diesem italienischen Fatzke ein paar Ohrfeigen zu servieren, robbte er noch näher. Nero sah ihn kummervoll an und sagte: »Tiger, Tiger, nun hast du dich aber kräftig übernommen.« Und ganz ruhig, als war gar nichts, putzte er mit seiner weißen Pfote sein schwarzes Fell und beobachtete, wie Tiger näher schlich.
»Hau ab«, sagte Tiger drohend.
»Putzelchen, einen anderen Ton bitte«, antwortete Nero, »schau, in Italien nannte man mich Corleone, was in deiner Sprache Löwenherz heißt. Ich war dort — nun, sagen wir, eine bekannte Größe.«
»Und wenn du der Kaiser von China wärst«, sagte Tiger, der bei seiner Lehrerin allerhand an Bildung mitbekam, »mir imponierst du nicht mit deinem schwarzen Affenpelz.«
Nero legte sich auf den Boden, ganz flach, reglos, und nur sein Schwanz zuckte hin und her.
»Affenpelz?« fragte er milde, »hast du Affenpelz gesagt, du seltsame gestreifte Wurst?« Und dann sprang er schnell wie ein Gedanke auf Tigers Nacken und biß einmal kurz zu. Tiger schrie auf, und Nero lockerte den Biß ein wenig und knurrte: »War das Wort, das du eben sagtest, wirklich Affenpelz, oder sollte ich mich verhört haben?«
»Verhört!« krähte Tiger, und die Lehrerin kam auf den Balkon und rief: »Tiger? Ist was?«
»Muttilein ruft«, sagte Nero und ließ Tiger los, der davon sauste und seine Leiter zum ersten Stock hochrannte, wo ihn die Lehrerin in Empfang nahm und sich erschrocken sorgte: »Du blutest ja!«
Tiger mußte mit vier Stichen genäht werden und zehn Tage lang eine entwürdigende Halskrause tragen, die ihn in der ganzen Gegend zu einer lächerlichen Figur machte. Wann immer er in Zukunft Nero sah, lief er schnell zu seiner Lehrerin, und Nero spuckte verächtlich aus und brummte: »Muttersöhnchen.«
I n einer milden Sommernacht gelang es Nero, die bildschöne Karthäuserin des Fräulein von Kleist ins Freie zu locken. »Hallo, kleine Kleist«, sagte er mit seiner süßesten Stimme zu ihr, und sie schmolz dahin und gebar dem Fräulein von Kleist fünf Junge: drei schwarze und zwei graue. Das Fräulein von Kleist war völlig außer sich, denn der Stammbaum der Karthäuserin reichte wie ihr eigener bis ins 12. Jahrhundert zurück, und da darf so etwas einfach nicht vorkommen! Ja, darf vielleicht nicht, kommt aber doch, und was will man schon gegen die Liebe machen! Die kleine Kleist gefiel Nero ausnehmend gut, und so blieb es nicht bei diesen fünf gemeinsamen Kindern. Bald waren in ganz Marienburg, in Bayenthal, Zollstock, ja, bis hinauf nach Klettenberg Kinder der Karthäuserin in mehr oder weniger guten Familien untergekommen, und manch schwarzes war dabei, das seinem Vater Nero Corleone in Sachen Frechheit durchaus Ehre machte. Manchmal, wenn der Mond schien, lockte Nero die kleine Kleist aus dem Haus und stieg mit ihr auf die Dächer. Dann sahen sie sich den Mond an, sangen ein bißchen, und er gurrte: »Kleine Kleist, ich sage dir, das Leben ist schön!« Und sie antwortete: »Jaja, und nächste Woche gehst du wieder mit einer anderen.« Vorwurfsvoll sah Nero sie an, zeigte ihr seine beiden Vorderpfoten — die weiße und die schwarze — und sagte mit honigsüßer Stimme: »Kleine Kleist, ich bitte dich, schau: können diese Pfoten fremdgehen?« Und dann mußte sie lachen, und sie sangen noch ein bißchen.
Ab und zu brachten die andern Katzen ein schönes Mäuschen für Nero (oder wenigstens die leckerere Hälfte davon), hoben ihm ein paar Brekkies auf, und Karlheinz zum Beispiel, Karlheinz bat ihn geradezu um Schutz. Karlheinz war ein alter räudiger Kater, der allein im Freien lebte. Ohne Zuhause streifte er durch die Gärten, fand hier und da etwas zu fressen, stöberte in Abfalleimern, hatte zwei, drei Adressen, wo er schon mal im Keller schlafen durfte und einen Teller Dosenfutter bekam. Karlheinz war alt, hustete und hatte nur noch ein Auge. Er sagte zu Nero: »Hör zu, du könntest mir diesen ekelhaften Tiger vom Leib halten und den idiotischen Hund von Frau General Grabowski, dafür kann ich dir ab und zu sagen, wo eine Milchsuppe zum Abkühlen draußen steht oder so ...«
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