Elke Heidenreich
Nero Corleone (Bd 1)
Eine Katzengeschichte
Mit Bildern von Quint Buchholz
Die Madonnina lebte schon so lange auf dem Hof, daß niemand wußte, wie alt sie war. Zehn Jahre? Zwölf? Sechzehn? Oder vielleicht doch erst acht? Den Namen verdankte sie ihrem hellroten Kopf, dessen Fell genau in der Mitte fromm gescheitelt war, wie bei einer kleinen Madonna. Zweimal im Jahr bekam die Madonnina Junge, im Frühling und im Herbst, und wenn der Bauer die neugeborenen Katzen rechtzeitig in ihrem Versteck fand, dann ertränkte er sie. Rechtzeitig hieß: noch ehe sie die Augen offen hatten und hinter ihrer Mutter her auf den Hof getrippelt kamen. Dann nämlich brachte er es nicht mehr fertig und rief verzweifelt: »Troppi gatti! Troppi gatti!«, was heißt: »Zu viele Katzen! Zu viele Katzen!« Aber er ließ sie leben, suchte ihnen Plätze auf anderen Höfen, verschenkte sie, und was dablieb, wurde mit durchgefüttert. Da gab es Paolo, einen alten schwarzgrau getigerten Kater, der kaum noch Zähne hatte; es gab den Schönen Felix, ganz in Hellgrau, sehr elegant, aber als er noch jung und vorwitzig war, hatten ihm die Hühner ein Auge ausgepickt; es gab die rote Messalina und Biff und Baff, zwei verfressene Raufbolde, die den Hof ratten- und mäusefrei hielten; und alle Jahre wieder kam irgendein Junges der Madonnina dazu, und wenn es stark genug war, um sich durchzusetzen, war das in Ordnung. Chef auf dem Hof war der alte mürrische Hund. Die Hühner waren zwar dämlich, wußten sich aber — siehe Schöner Felix — durchaus Respekt zu verschaffen, wenn man sie ärgerte oder ihnen die Eier unter dem Hintern klauen wollte, und bei den Katzen hatte die kleine, zähe Madonnina das Sagen. Alles hatte seine Ordnung.
Bis zu diesem Freitag, dem 17. November.
Dazu muß man wissen: Unsere Geschichte beginnt in Italien, und was bei uns in Deutschland Freitag, der 13. ist — ein gefährlicher Unglückstag, ein Tag der verlorenen Geldbörsen, versäumten Küsse und Pickel auf der Nase —, das ist in Italien Freitag, der 17. Und der November gilt als Unglücksmonat — wenn also der 17. November auf einen Freitag fällt und wenn noch dazu gerade an diesem Tag aus einem schlechtgelaunten, dunklen Himmel ein böse grollendes Wintergewitter mit Prasselregen kommt, dann bedeutet das nichts Gutes.
Und an einem solchen Tag warf die Madonnina ihre Jungen. Es waren vier, und zum aller - erstenmal war ein kohlpechrabenschwarzes dabei. Nein, nicht ganz schwarz: die rechte Vorderpfote war weiß. Das war aber auch alles. Es war un maschio, ein Mann, ein Knabe, ein Kater. Ein schwarzer Kater, geboren am Freitag, dem 17. November bei Donner und Blitz um 12 Uhr mittags, high noon. Oje. Sie nannten ihn Nero. Nero heißt: schwarz.
Eines Abends Anfang Dezember stellte der Bauer wie üblich den großen Blechteller mit Nudeln, Reis, Weißbrot, Milch und einem bißchen Fleisch für seine Katzen hin, da sah er die vier Kleinen zum erstenmal. Die Madonnina brachte sie mit und eroberte ihnen Plätze am Tellerrand.
»Porco dio!« schrie der Bauer, »quattro! E un nero!« Den Fluch übersetze ich lieber nicht, aber der Rest heißt: »Vier! Und ein schwarzes!« Die beiden weißgrau Getigerten brachte er in den nächsten Wochen oben in den Bergen bei einem Freund unter, der Mäuse in der Scheune hatte und gern zwei kräftige junge Katzen aufnahm — sie würden sich ihren Lebensunterhalt mit Jagen verdienen müssen. Die kleine Rotweiße, die der Madonnina sehr ähnlich sah, er nannte sie Rosa, stellte sich beim Fressen und auch sonst so tapsig und dumm an, daß er sie noch eine Weile bei ihrer Mutter lassen wollte, dann würde man schon sehen. Außerdem hatte Rosa himmelblaue Augen, mit denen sie fürchterlich schielte — man wußte nie: sah sie zum Futterteller hin oder schaute sie den Wolken nach? So etwas Komisches hatte der Bauer noch nie gesehen. Und Nero, den kleinen Schwarzen — den bekam er einfach nicht zu fassen. Wann immer der Bauer sich nach ihm bückte, war Nero weg, schnell wie der Blitz und unauffindbar.
»Furbo!« rief der Bauer, »Spitzbube!«, und: »Diavolo nero!«, »Schwarzer Teufel!«, aber er kriegte ihn nie, und die Tiere auf dem Hof hielten die Luft an und sagten: »Wenn das mal gutgeht!«
Es ging nicht gut.
Nero hatte in kürzester Zeit alles und alle fest im Griff, oder besser gesagt: in seiner kleinen weißen Pfote mit den messerscharfen Krallen. Die Hühner überließen ihm jeden Tag freiwillig ein frisches Ei, nachdem er einmal vor ihnen sein kleines Maul mit den spitzen Zähnen aufgerissen und sie angefaucht hatte: »Ich kann euch nämlich auch so lange durch die Gegend scheuchen, daß ihr überhaupt keine Zeit mehr findet, ein Ei zu legen.« Er sträubte seinen langen weißen Schnurrbart und rupfte ausgerechnet Camilla, dem mutigsten Huhn, ein paar Federn aus, so daß die dummen Hühner mächtig Angst bekamen und klaglos mitspielten: jeden Tag ein frisches Ei für Nero. An einem Stein knackte er es auf und schlürfte es dann aus. Er schmatzte und schnurrte und kniff seine kugelrunden, giftgrünen Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Aber es entging ihm nichts. Wenn er fast fertig war, rief er jedesmal die dumme Rosa, und sie durfte die Reste essen. Sie saß immer in einigem Abstand bewundernd in seiner Nähe und wartete demütig, bis sie dran war, und er vergaß sie nie. Es schien seine einzige gute Eigenschaft zu sein: die Sorge um die dumme Rosa. Er schützte sie, er gab ihr von seinen Beutezügen ab, er holte sie abends an den Blechteller, wenn sie mal wieder oben im Heu schlief und die Fütterung verpaßte. Auch vor seiner Mutter, der Madonnina, hatte er einen gewissen Respekt — zumindest hob er nie die Pfote gegen sie.
Aber der Hund — der hatte bei Nero gar nichts zu melden. Zwei Tage lang hatte er ihn sich aus gebührender Entfernung angesehen, hatte seine Größe eingeschätzt, die Länge und Reichweite seiner Kette studiert, über seine gefletschten Zähne nachgedacht. Am dritten Tag war er lautlos zu ihm geschlichen, der alte Hund hatte ihn nicht einmal kommen hören. Er wurde aus seinem dösigen Halbschlaf erst aufgeschreckt, als sich ihm eine kleine Pfote — die weiße! — sachte über sein linkes Auge legte.
»Ich bin's«, sagte Nero, »und jetzt spar dir dein blödes Bellen. Denk mal einen Augenblick nach — merkst du was? So sieht man mit nur einem Auge.« — »Was soll das heißen«, knurrte der alte Hund und blinzelte mit seinem freien Auge auf diesen rabenschwarzen Wicht, unsicher, denn so war noch nie eine Katze mit ihm umgesprungen.
»Das soll heißen«, sagte Nero sanft, »daß man mit einem Auge nicht mehr soviel sieht wie mit zweien. Wenn du dich also mir gegenüber mit deiner Bellerei, mit Zähnefletschen und ähnlichem Schnickschnack noch einmal groß aufspielst oder mich weckst, wenn ich gerade in der Sonne ein Nickerchen halte, dann würde ich einmal kurz so machen«, und er schob haarscharf neben dem verdeckten Auge eine seiner Krallen in das empfindliche Gesicht des alten Hundes, der laut auf jaulte, »dann wäre das Auge möglicherweise weg und du hättest, wie gesagt, nur noch eins. Das wollte ich kurz andeuten, ich freue mich, daß wir uns verstehen, buon giorno.« Und weg war er wieder.
Die arideren Tiere hielten die Luft an. Camilla, das Huhn, seufzte: »Madonnina, was hast du uns denn da bloß ausgebrütet?«, aber die Madonnina putzte sich ihr kurzes, dreifarbiges Fell und sagte: »Erstens liebt eine Mutter alle ihre Kinder gleich, und zweitens: warum laßt ihr euch alles bieten? Mit mir macht er seine Mätzchen nicht.« Und dann sah sie ihm nach, wie er gerade auf die Küchenfensterbank sprang, um von einem Vanillepudding zu essen, der dort abkühlen sollte, und schnurrte: »Ach, und irgendwie finde ich ihn auch süß, den kleinen Racker.«
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