Lag es vielleicht daran, dass die Herstellung von Büchern billiger war? Indem man beide Seiten eines Bogens beschrieb, sparte man bei den Ausgaben für das Schreibmaterial fast die Hälfte. Oder war es, weil Bücher auf Reisen einfacher transportiert werden konnten? Das angenehme Format kann zur schnellen Verbreitung der christlichen Bücher beigetragen haben. Oder war es, weil ein Buch auf der Suche nach einem bestimmten Zitat schneller aufgeschlagen werden konnte als eine Schriftrolle?
Wollten die Christen vielleicht verdeutlichen, dass ihr Glaube nicht mit dem der Juden identisch war? Viele Zeitgenossen unterschieden nämlich nicht zwischen Juden und Christen. Oder entschieden sie sich für das Buch, weil es leichter zu verstecken war? Ein Buch konnte unter etwas anderem verborgen, in eine Felsspalte geschoben oder zusammengefaltet werden. Vielleicht bezeugt die Wahl des Buchformats also die stete Bereitschaft der Christen, ihre Bücher zu verbergen, wenn sie von Verfolgung bedroht waren?
Oder hat die Wahl mit dem Buchformat an sich zu tun? Ein Codex war von Beginn an eine Art Notizbuch. Er wurde nicht für große literarische Werke verwendet, sondern war ein praktischer kleiner Begleiter, in dem man Notizen machen konnte. Einer Theorie des Forschers Colin H. Roberts zufolge wurde das Markusevangelium zuerst in so einem Notizbuch niedergeschrieben. Daher verbanden die Menschen den Codex mit dem Christentum, wodurch alle späteren christlichen Bücher auch die Buchform erhielten.
Die vielleicht beste Erklärung nimmt ihren Ausgangspunkt in dem Umstand, dass die christlichen Schriften in Gruppen gesammelt wurden. Ein Codex bot nämlich Platz für mehr Text als eine Schriftrolle. Solange man lediglich ein Evangelium pro Band schreiben wollte, war dies mittels einer Schriftrolle gut umsetzbar. Eine Rolle konnte jedoch nicht länger als zehn bis zwölf Meter sein. Und schon bald benötigten die Christen ein Format, das mehreren Schriften in einem Band Platz bot. Allem Anschein nach sind diese Sammlungen sehr früh entstanden. Vermutlich kursierte bereits um das Jahr 100 n.Chr. eine Sammlung der von Paulus verfassten Briefe. Diese Sammlung hätte eine Buchrolle von etwa 25 Metern erfordert, also doppelt so lang, wie eine Rolle sein konnte. Paulus’ Briefsammlung sprengte somit die Buchrolle, und den Christen blieb nur eine Alternative: Sie mussten die Briefe in Büchern sammeln, in denen man blättern konnte.
Somit kann die Frage gestellt werden: Welche Auswirkungen hatte die Wahl des Buchformats auf unser Verständnis der Texte? Eine Buchrolle ist dafür gemacht, einen Text zusammenhängend von Anfang bis Ende zu lesen, während ein Buch den Leser einlädt, vor- und zurückzublättern. Wie hat das Buch die Art und Weise beeinflusst, in der wir heute die Bibel lesen? Springen wir im Text mehr hin und her?
Viele Leser springen auf der Jagd nach den guten Zitaten im Text hin und her. Häufig wählen sie die schönen und tröstenden Sätze aus. Die Gefahr besteht selbstverständlich darin, dass die schwierigen und herausfordernden Texte unberührt bleiben. Vielleicht wäre es gewinnbringend, längere Textabschnitte im Zusammenhang zu lesen? Vielleicht sollten wir einfach mehr im Text »scrollen«?
Jetzt haben wir uns ganz kurz mit dem Erscheinungsbild der Manuskripte beschäftigt und mögliche Gründe für die Wahl des Buchformats zusammengestellt. Lassen Sie uns nun ins 5.Jahrhundert zurückgehen. Ist es möglich, Manuskripte des Neuen Testaments aus dieser Zeit zu finden?
In London befindet sich ein Dokument mit einigen geheimnisvollen Notizen neben dem Bibeltext. Es ist das erste Manuskript, das ein eigenes Symbol erhielt. Das Symbol ist der Buchstabe »A«, der erste Buchstabe des Alphabets. Aber woher kommt das Manuskript? Und wie alt ist es?
TEIL 2:
Die großen Manuskripte
des Neuen Testaments
Das Manuskript mit dem falschen Namen:
Codex Alexandrinus
Siehe Abbildung 1
»Das Manuskript soll sich in der Zelle des Patriarchen in der Festung in Alexandria befinden. Wer es von dort entfernt, soll verbannt und ausgestoßen sein. Gruß Athanasius der Demütige.« 1
Die oben stehende Anmerkung ist historisch. Sie wurde auf das große Pergamentmanuskript Codex Alexandrinus gekritzelt, wobei sich hinter dem Unterzeichner »Athanasius der Demütige« der Patriarch Athanasius III. verbirgt. Die Hafenstadt Alexandria galt in der Antike als wichtiges Zentrum der Gelehrsamkeit und des Wissens – sowie der christlichen Kirche. Der Bischof von Alexandria war Patriarch über alle Christen Ägyptens, und Athanasius III. hatte diese Stellung von 1275 bis 1315 n.Chr. inne. Er ist der Mann hinter der kurzen Nachricht: Das Buch solle bei ihm verbleiben.
Der Codex Alexandrinus war das erste in Europa bekannte große Bibelmanuskript der Antike. 1627 wurde es König Karl I. von England als imposantes Neujahrsgeschenk überreicht. Im Zuge der feierlichen Übergabe wurde auch hervorgehoben, dass das Buch dem Patriarchen von Alexandria höchstpersönlich gehört habe. Aus diesem Grund erhielt es für alle Zeiten den ersten Platz unter den alten Manuskripten der Bibel und als Symbol den Buchstaben A.
Der Codex Alexandrinus ist ein großes und schönes Manuskript, auf feines Pergament geschrieben und auf jeder Seite mit Text in zwei Spalten. An mehreren Stellen finden sich prachtvolle, farbige Ausschmückungen. Das alte Buch ist ein fast komplettes Manuskript der Bibel. Von den einst mindestens 817 Bögen sind heute noch 773 erhalten. Das Buch ist eines der prächtigsten Bibelmanuskripte überhaupt. Der Name Codex Alexandrinus wurde 1657 erstmals im Vorwort einer englischen Bibelausgabe verwendet. Seither besteht die Verbindung zu der ägyptischen Hafenstadt.
Im Laufe dieses Buches werden wir immer wieder auf Manuskripte aus Ägypten stoßen. Das Land verfügt über eine uralte Tradition des Schreibens. Der entlang des Nils geerntete Papyrus lieferte eine schöne und strapazierfähige Schreibgrundlage, zudem war die Kunst des Schreibens in der Gegend früh bekannt. Daher schlug sich der Glauben auch in Büchern nieder, als sich die christliche Kirche in Ägypten etablierte. Das alte Buch aus Alexandria gilt als eines der prächtigsten Beispiele einer ägyptischen Bibel.
Aber stammt das Buch wirklich aus Alexandria? Neuere Forschungen lassen Zweifel daran aufkommen. Kommt das Buch möglicherweise gar nicht aus der Stadt, deren Namen es trägt? In diesem Fall würde das alte Manuskript seit mehr als 350 Jahren unter einem irreführenden Namen firmieren. Wie wir sehen werden, ist der Codex Alexandrinus ein Beispiel dafür, dass die Wahrheit eine andere sein kann als die von allen angenommene. Die Spuren des alten Manuskripts weisen nämlich in ganz andere Richtungen als nach Alexandria.
Aber wie kam es zu der anfänglichen Verbindung zwischen dem Manuskript und der alten ägyptischen Hafenstadt? Der Grund ist ganz sicher die Nachricht von Athanasius III. Sie wurde mit wogender arabischer Handschrift unten auf der ersten Seite des Buches notiert. Auf dieser Seite finden wir den ersten Text des 1.Buch Mose Kapitel 1: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …« (1 Mose 1,1). Darunter ist die Mitteilung zu lesen: »Das Manuskript soll sich in der Zelle des Patriarchen befinden.«
Auf dem Manuskript findet sich jedoch noch eine zweite geheimnisvolle Notiz. Auch diese ist in Arabisch geschrieben und steht auf der Innenseite des Umschlags. Sie gibt an, das Manuskript sei von Thekla geschrieben worden, einer Heiligen aus Ägypten, die im 4.Jahrhundert n.Chr. lebte. Um dies zu unterstreichen, hat jemand dem Manuskript einen Zettel beigelegt, der die gleiche Information enthält und erläutert:
»Dieses Buch mit den heiligen Schriften des Alten und des Neuen Testaments wurde der Tradition zufolge von Theklas Hand geschrieben, einer edlen Ägypterin, vor ungefähr dreizehnhundert Jahren, in einer Zeit nach dem Konzil von Nicäa.« 2
Читать дальше