Nun demütigten sich die Verräter, in alten zerschlissenen Kleidern, die entblößten und mit Staub bestreuten Köpfe tief gebeugt. Ruf Bilan, der Lump, der seine Heimatstadt als erster an den Feind verraten hatte, war jedoch nicht unter ihnen.
Die Nachfragen ergaben, daß er schon gestern verschwunden war. Kleine Jungen, die am Tor spielten, hatten ihn in Richtung des Kerkerturms fliehen sehen, und es war anzunehmen, daß er sich dort verbarg.
Der Eiserne Holzfäller, Charlie und Lestar brachen, von einer neugierigen Menge begleitet, zum Turm auf.
Auf dem Vorplatz und im Turm war der ehemalige königliche Zeremonienmeister nicht zu finden. Kleiderfetzen am Loch in der Tür deuteten aber darauf hin, daß er durchgeschlüpft und in den unterirdischen Gang entkommen war, von dem er seinerzeit bei der Untersuchung der Flucht des Scheuchs und des Holzfällers erfahren hatte.
»Ich nehme die Verfolgung auf«, sagte der Eiserne Holzfäller, mit dem Stiel seiner Axt auf den Boden schlagend.
»Ich gehe mit!« rief Charlie Black.
»Ich auch«, sagte Lestar.
Der Holzfäller lehnte jedoch ihre Hilfe ab.
Er ging den bekannten Weg, über den er mit dem Scheuch aus dem Kerkerturm geflohen war.
Aus dem langen Korridor trat er in die Höhle des Sechsfüßers. Laut hallte sein eiserner Schritt im steinernen Gewölbe. Plötzlich gewahrte er, der im Dunkeln ebenso gut wie am Tage sah, eine davoneilende kleine dicke Figur.
Es war Ruf Bilan, der, von Entsetzen gepackt, das Weite suchte.
Der Holzfäller schrie ihm nach:
»Bleib stehen, Wahnsinniger, du rennst ins Verderben!«
Der Flüchtling bog jedoch in einen Seitengang ein und verschwand im steinernen Labyrinth. Lange suchte ihn der Holzfäller, konnte ihn aber nicht finden und kehrte um. Von diesem Tag an blieb Ruf Bilan verschollen.
Mit dem Zeremonienmeister hatte auch die Eule das Schloß verlassen, denn sie erwartete für ihr Teil nichts Gutes von den Siegern. In der Stadt war man der Ansicht, Guamoko habe Urfin bei seinen bösen Zaubereien geholfen. In Wirklichkeit hatte sich dieser in den letzten Monaten aber kein einziges Mal an die Eule um Rat gewandt.
Während sie auf Ruf Bilans Schulter saß, höhnte Guamoko:
»Ich hab mir schon immer gedacht, daß aus diesem Mann kein richtiger böser Zauberer wird. Hat er vielleicht jeden Tag Mäuse, Spinnen und Blutegel gegessen? Wovon sollte sich denn die Bosheit bei ihm ernähren? Ja, Gingema, die war eine richtige Zauberin! Urfin aber ist nur ein Schwätzer…«
Guamoko verspürte keine Lust, Bilan in den Kerkerturm zu folgen. Als sie diesen erreicht hatten, erhob sich die Eule mit schwerem Flügelschlag und flog in den Nachbarwald.
Dort nistete sie sich in der Höhlung einer riesigen Eiche ein und verlangte, daß die dortigen Eulen und Uhus ihr Tribut zollten. »Ich bin eine Schülerin Gingemas«, verkündete sie, »und wenn ihr mir nicht gehorcht, werdet ihr es schwer zu büßen haben!« Die Drohung wirkte, und Guamoko wurde regelmäßig mit Mäusen und kleinen Vögeln versorgt. Wenn sie in guter Stimmung war, versammelte sie viele Zuhörer um sich und erzählte Geschichten aus dem abenteuerlichen Leben, das sie als Zauberin angeblich geführt hatte.
Als der Eiserne Holzfäller mit seinen Gefährten zum Stadttor zurückkehrte, empfing sie der Glanz riesiger Smaragden, ein Gefunkel, das mit Ausnahme von Charlie Black alle von früher gekannt und beinahe vergessen hatten. Juweliere auf hohen Leitern und in Schwebekörben setzten in Tor und Mauern die Edelsteine wieder ein, die man aus den Schatzkammern des Schlosses geholt hatte. Die Smaragdenstadt erhielt ihr einstiges Aussehen zurück.
Unter dem Torbogen wurden die Ankömmlinge von Faramant empfangen, der seine grüne, mit Brillen gefüllte Tasche an der Seite trug.
»Bitte, setzt die grünen Brillen auf!« sagte der Hüter des Tores und öffnete die Tasche. »Ohne grüne Brillen ist das Betreten der Smaragdenstadt verboten – so lautete der Befehl Goodwins, des Großen und Schrecklichen! Als Goodwin sich zu seinem Freund, dem großen Zauberer Sonnenball, aufmachte, warnte er die Einwohner der Stadt davor, ihre grünen Brillen jemals abzunehmen. Ein Verstoß gegen dieses Gesetz werde schlimme Folgen für uns haben, sagte er damals. Wir haben sein Gebot verletzt, und schweres Unglück hat uns heimgesucht.«
Ohne Widerrede setzten alle die Brillen auf. Wie wunderte sich aber Charlie Black, als ringsum alles zu funkeln und in den verschiedensten Schattierungen von Grün zu strahlen begann!
»Bei den Zähnen des Drachen!« rief der Seemann begeistert. »Elli hat recht gehabt, als sie sagte, die Smaragdenstadt sei die schönste in der ganzen Welt.«
Der Eiserne Holzfäller und seine Freunde gingen die schattigen Straßen entlang durch das jubelnde Volk und kamen auf den Schloßplatz, wo die herrlichen Springbrunnen bereits sprudelten.
Der Graben um das Schloß war wie in alten Zeiten wieder mit Wasser gefüllt, die Brücke hochgezogen. Wie einst stand wieder Din Gior auf der Mauer und kämmte mit goldenem Kamm seinen wallenden Bart.
»Din Gior!« rief Lestar, »öffne das Tor!«
Keine Antwort.
Der Soldat blickte verzückt in den Handspiegel und kämmte liebevoll seinen Bart.
»Din Gior!« riefen jetzt alle, und der Eiserne Holzfäller klopfte mit dem Stiel seiner Axt gegen die Pforte.
Din Gior hörte nichts. Vom Lärm angezogen, flatterte Kaggi-Karr aus dem Fenster, flog auf den Feldmarschall zu und schrie ihm ins Ohr:
»Wach auf! Unsere Freunde warten unten!«
Din Gior mußte sich einen Ruck geben.
»Ach, ihr seid es?« fragte er. »Ich hab mich, scheint mir, etwas abgelenkt…«
Jetzt, wo Urfins Armee zerschlagen und der Smaragdenstadt keine Gefahr mehr drohte, war der langbärtige Soldat wieder der zerstreute Kauz von ehemals.
Die Brücke senkte sich, das Tor tat sich auf, und der Eiserne Holzfäller ging mit seinen Gefährten in den Thronsaal des Schlosses, wo Goodwin der Große und Schreckliche ihm das erste Mal als vielarmiges und vieläugiges Ungeheuer erschienen war.
Jetzt saß der Scheuch in würdiger Haltung auf dem Thron. Neben ihm stand Elli, die silbernen Schuhe an den Füßen und das goldene Hütchen auf dem Kopf, etwas weiter kauerten der Tapfere Löwe und Totoschka mit ihren funkelnden Goldketten um den Hals, und auf der Lehne des Thrones saß Kaggi-Karr.

Im Saal drängten sich lachend und tuschelnd die Höflinge, die nicht in Urfins Dienst getreten waren. Jetzt waren sie furchtbar stolz darauf, protzten mit ihrer Treue für den Weisen Scheuch und warteten, dafür belohnt zu werden.
Der Scheuch erhob sich und machte fünf Schritte auf seine Gäste zu, was von den Höflingen als Zeichen höchster Gnade gedeutet wurde.
Dann wurden lange Tische mit zahllosen Getränken und Speisen in den Saal getragen. Es begann ein frohes Fest, das bis zum Abend dauerte. Die Einwohner der Stadt hatten ihre schönsten Kleider angezogen, und die schreckliche Zeit der Herrschaft Urfins kam ihnen jetzt nur noch wie ein schwerer Traum vor.
Wenige Tage später wurde über Urfin Gericht gehalten. Die Einwohner der Smaragdenstadt schlugen vor, ihn in ein Bergwerk zu verbannen.
Da erhob sich Charlie Black und sagte:
»Liebe Freunde! Täten wir nicht besser, diesen Mann sich selber zu überlassen?«

»Richtig!« sagte Elli. »Das wird die schwerste Strafe für ihn sein. Stellt euch vor, er wird unter den Leuten leben, die er sich unterwerfen wollte, und alles wird ihn an seine scheußlichen Verbrechen erinnern!«
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