Er ruhte nur 2 – 3 Stunden am Tag. Häufig schlief er an der Werkbank ein, und der Stichel entfiel seinen Händen. Sein Gesicht bekam tiefe Runzeln, die Wangen fielen ein, und die Augen unter den schwarzen, buschigen Brauen versanken noch tiefer in den Höhlen. Der Diktator sah furchtbar und jämmerlich aus. Seine Räte gingen ihm ängstlich aus dem Wege, wenn er für kurze Zeit die Werkstätte verließ und durch die Säle des Schlosses eilte.
Die Zahl der Holzsoldaten betrug schon fast zweihundert, als sich etwas Schreckliches ereignete.
Urfin hatte gerade einen neuen Zug Holzsoldaten mit einem Unteroffizier aus Mahagoniholz angefertigtund wollte wie gewöhnlich eine Handvoll Zauberpulver aus der Büchse nehmen. Als er jedoch die Hand hineinsteckte, entdeckte er, das nur eine dünne Schicht Pulver auf dem Boden der Büchse lag.
Schreckensbleich kippte Urfin die Büchse um – es war die letzte – und schüttete das Pulver auf die Werkbank. Der Inhalt reichte aber höchstens noch für die Belebung eines einzigen Soldaten. Urfin trommelte wie rasend auf den Boden des Gefäßes, bemüht, herauszuschlagen, was nicht mehr drinnen war. Dann stürzte er zu den anderen Büchsen, kippte und schüttelte auch sie, doch heraus kamen nur ein paar Körnchen.
Urfin war verzweifelt. Das Zaubermittel, das ihm solche Macht verliehen hatte, war verbraucht. Jetzt besaß er nur, was er bisher geschaffen hatte…
Er hatte immer neue und neue Soldaten hergestellt, ohne daran zu denken, daß das Pulver einmal ausgehen könnte, daß der Vorrat nicht ewig sei.
Nun erkannte er seinen entsetzlichen Irrtum.
Er wollte aber versuchen, mit dem Rest des Pulvers wenigstens die zehn Soldaten und den Unteroffizier, die letzten Reserven seiner Streitmacht, zu beleben. Sorgfältig teilte er das Pulver in elf Teile und bestreute damit die liegenden Figuren.
Wie gewöhnlich fing das Zaubermittel leise zu zischen und zu rauchen an und drang in das Holz ein. Urfin wartete. Es vergingen zehn Minuten, fünfzehn… Die Holzköpfe begannen sich zu rühren und ihre Glasaugen langsam zu drehen. Nach weiteren zehn Minuten versuchte der Unteroffizier, der etwas mehr vom Pulver bekommen hatte, aufzustehen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Urfin half ihm. Mit großer Mühe kam der Holzmann schließlich auf die Beine und stand schwankend da.
Das bißchen Pulver konnte solch großen Figuren nicht genügend Leben eingeben.
Wieder vergingen fünfzehn Minuten, dann hatten sich auch die Soldaten mühsam erhoben. Urfin wollte sie in Reih und Glied ausrichten, es kam aber nur ein schwankender Haufen zustande, und die Soldaten mußten sich aneinander festhalten, um nicht umzufallen.
Anderthalb Stunden brauchte der Zug, um bis zur Tür der Werkstätte zu gelangen. Um den Schloßhof zu überqueren, hätte er wahrscheinlich vierundzwanzig Stunden gebraucht.
Urfin verzichtete jedoch darauf. Er rief einen Gefreiten herbei und befahl ihm, die sich kaum regenden Holzköpfe ins Feuer zu werfen.
Unterdessen waren seit der Flucht der Gefangenen mehrere Wochen vergangen. Die schnellfüßigen Polizisten, die auf Kundschaft in das Violette Land ausgezogen waren, kehrten mit beunruhigenden Nachrichten zurück. In den Nächten hatten sie sich auf Schleichwegen den Versammlungsplätzen genähert und, in Schluchten und hinter Steinen verborgen, gelauscht, was die Leute sprachen. Auf diese Weise erfuhren sie, daß demnächst eine Armee aus mehreren Hundert Zwinkerern unter Führung des Scheuchs, des Eisernen Holzfällers, des Langbarts Din Gior und eines geheimnisvollen Riesen namens Holzfuß gegen Urfin antreten würde. Die Vorbereitungen seien in vollem Gange, erzählten sie, man arbeite an einer besonderen Waffe, die Zwinkerer würden unter Din Giors Leitung militärisch ausgebildet.
Urfin hielt die qualvolle Unruhe nicht länger aus und beschloß, eine Entscheidung herbeizuführen. Er ließ seinen Obersten Zeremonienmeister Ruf Bilan sowie den General Lan Pirot zu sich kommen und sagte zu ihnen:
»Ich habe beschlossen, meine Armee in den Kampf zu führen! Es ist an der Zeit, den Rebellen zu zeigen, wer der Herrscher im Wunderland ist.«
Der Oberste Zeremonienmeister erbleichte. Er hatte als erster die Kundschafter ausgefragt und wußte über die Lage viel mehr, als er dem König mitzuteilen für ratsam hielt. Bilan hatte begriffen, wie gefährlich es war, dem Feind auf offenem Felde entgegenzutreten, und hub vorsichtig an:
»Mächtiger König, Herrscher…«
»Ohne Titel!« fuhr ihn Urfin an.
»Zu Befehl! Der Feind ist sehr stark. Wäre es nicht besser, uns in der Stadt zu verbarrikadieren…«
»Elender Feigling!« brüllte Lan Pirot, die Augen rollend. »Meine tapfere Armee wird jeden Feind zerschlagen!«
»Richtig!« ermunterte ihn Urfin. »Lernt doch beim General, Herr Zeremonienmeister, was Tapferkeit ist!«
»Aber ich hab ermittelt, daß Din Gior…«
»Mund halten!! Wie sprecht Ihr zu mir? Wo sind meine Titel? Oder bin ich etwa nicht mehr König?!«
Ruf Bilan schwieg verwirrt. Der Feldzug war beschlossen.
Eiligst wurde der Staub von den Holzköpfen abgebürstet, der General hielt eine markige Rede, und die Armee, bestehend aus hundertdreiundsechzig Soldaten, siebzehn Unteroffizieren und einem Palisandergeneral, brach in Richtung Osten auf. Die Soldaten stapften mit ihren Holzfüßen über das Backsteinpflaster, schwangen ihre Knüppel und schnitten entsetzliche Grimassen. Urfin ritt daneben auf seinem treuen Meister Petz.
Die Armee übernachtete auf einem Feld. Soldaten und Unteroffiziere standen die ganze Nacht über in Reih und Glied und stierten in das Dunkel. Urfin wälzte sich unruhig auf seinem Lager. Am Morgen stand er völlig erschöpft auf. Er hatte schlimme Vorahnungen, doch ein Zurück gab es nicht.
Die Schlacht fand auf einem großen Feld des Smaragdenlandes statt. In der Ferne erblickte Urfin einen violetten Streifen, der immer größer und breiter wurde: Es war das Heer der Zwinkerer. An der Spitze hinkte der Riese Holzfuß, gefolgt von dem Mädchen, dem Scheuch, dem Eisernen Holzfäller, dem schwarzen Hündchen und dem Löwen, der sich mit dem Schweif grimmig die Flanken peitschte. An der Seite der Zwinkerer schritten der Langbart Din Gior und der Hüter des Tores.
Urfin erbleichte. Er wünschte jetzt, daß alles, was sich seit der Nacht zugetragen hatte, als der Sturm die Saat des unbekannten Unkrauts in seinen Garten geweht hatte, nur ein böser Traum wäre. Er hätte jetzt viel darum gegeben, in seinem friedlichen Häuschen aufzuwachen, von dessen Schwelle aus man die herrlichen schneebedeckten Gipfel sehen konnte…
»General! Gebt den Rückzugsbefehl!« schrie Urfin. »Wir werden uns in der Smaragdenstadt einschließen, mit unseren Kräften können wir einer langen Belagerung standhalten!«
»Kehrtmachen!« kommandierte Lan Pirot, und die Unteroffiziere wiederholten den Befehl.
Die Holzarmee machte kehrt. Aber was war das? Urfin begann an allen Gliedern zu zittern. Hinter den grünen Häuschen traten, von Gras und Strauchwerk kaum zu unterscheiden, die aufständischen Einwohner des Smaragdenlandes hervor.
Städter und Farmer, mit Spaten, Heugabeln, Sensen, Zaunlatten und -pflöcken bewaffnet, überschwemmten das Feld. Urfins Armee war der Rückzug abgeschnitten.
Die erste Reihe der Zwinkerer trat auseinander, und eine riesige Kanone wurde aufgefahren, die die tüchtigen Waffenschmiede Lestars aus einem dicken Baumstamm gefertigt hatten.
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