Der erste Schritt ist immer schwer. Bald war Urfin soweit, daß er sein Gesicht mit Vergnügen dem Wind entgegenhielt und stolz auf die unter ihm vorbeirasenden Felder und Wälder blickte.
»Das alles wird bald mir gehören!« brummte er leise, damit Karfax ihn nicht höre.
Urfin teilte dem Adler mit, daß er sich an die Spitze des Volkes der Springer zu stellen beabsichtige.
»Das sind dumpfe, unwissende Menschen«, sagte er, »sie führen ein schweres Leben. Ich will ihnen alle Freuden bieten, die ein Mensch unter der Sonne unseres Landes erlangen kann.«
Karfax erklärte sich bereit, Eot Ling zu den Springern zu fliegen. Urfin nähte für den Clown ein Kleid aus Kaninchenfell, in dem Eot wie ein kleines flinkes Tierchen aussah. Selbst wenn ihn jetzt ein Springer entdeckte, würde er ihn nicht für den Kundschafter eines fremden Landes halten.
Eines Morgens erhob sich Karfax von der kleinen Wiese vor Urfins Haus in die Luft und nahm Kurs auf das Land der Springer, das westwärts lag. Am Hals des Adlers hing als Proviant ein Bündel Kaninchen. Auf seinem Rücken lag der Clown, der sich an den Federn festhielt.
Am Abend des folgenden Tages kehrte der Adler zurück. Er erzählte, daß er nachts, als die Springer schliefen, Eot Ling über die Berge getragen und an einem verlassenen Ort abgesetzt habe. Dort würde der Clown ihn in zehn Tagen erwarten.
Diese zehn Tage kamen Urfin wie eine Ewigkeit vor.
Als sie um waren, flog Karfax wieder nach dem Westen und kehrte mit dem Clown zurück, der unversehrt war und recht zufrieden aussah. Eot Ling zog das lästige Kaninchenfellkleid aus und warf seinem Herrn einen vielsagenden Blick zu. Urfin verstand, daß er mit ihm unter vier Augen sprechen wolle, und trug ihn in das Haus.

Als sie allein waren, rief Eot Ling fröhlich: »Diese Dummköpfe! Ach, Herr, wüßtest du, wie einfältig sie sind. Freilich können sie auch gefährlich sein, und man muß sich deshalb vor ihnen in acht nehmen«, fügte er hinzu.
»Na, erzähl schon!« brummte Juice ungeduldig.
Der Clown begann zu erzählen, was er in den zehn Tagen seines Aufenthaltes im Lande der Marranen gesehen und gehört hatte.
LEBEN UND SITTEN DER SPRINGER
Eot Ling hatte vieles ausgekundschaftet. In seinem grauen Kleid, das ihn einer großen Ratte ähnlich machte, war er um die Dörfer gestrichen und in Häuser eingedrungen, hatte gelauert und gehorcht. Nur einmal erwischte ihn ein Junge (Kinder passen gewöhnlich schärfer auf als Erwachsene), doch der Clown biß ihn so stark in den Finger, daß der Kleine vor Schmerz aufschrie und ihn losließ.
Eot Ling erzählte: Das Volk der Springer sei zahlreich, es besitze allein an erwachsenen Männern mehrere Tausend. Bei dieser Nachricht nickte Urfin freudig mit dem Kopf: ›Aus ihnen wird eine starke Armee‹, dachte er bei sich.
Das Land der Springer liege in einer runden Ebene, die von steilen Bergen umgeben sei, fuhr der Clown fort, welche das Tal gegen Winde schützen. Tags sei es dort immer warm, nachts aber kalt. Die Einwohner bauen keine Häuser, dazu fehle es ihnen an Geschick. Sie leben in Strohhütten oder begnügen sich einfach mit Strohdächern, die auf Pfählen ruhen, und kleiden sich leicht. Die Männer tragen lange Hosen und ärmellose Röcke, die Frauen kurze Kleider. Bei den Schwätzern, den Untertanen Stellas, tauschen die Marranen Edelsteine, die sie in den Bergen gewinnen, gegen Kleider, Äxte, Messer und Spaten.
Die Marranen seien klein von Wuchs, aber gedrungen, haben große Köpfe, lange, starke Arme mit mächtigen Fäusten und sehr kräftige Beine, die sie befähigen, gewaltige Sprünge zu machen. Deshalb nennen die Einwohner der Nachbarländer sie auch Springer. Allerdings mögen die Marranen diesen Namen nicht. Ihr Herrscher sei Fürst Torrn…
»Wohl ein ehrwürdiger Greis mit einem langen, grauen Bart?« unterbrach Urfin seinen Diener.
»Nein, Herr«, entgegnete Eot Ling. »Diese Leute tragen keine Bärte, nicht einmal Schnauzbärte. Das Haar im Gesicht ist ihnen lästig, und sie befreien sich davon auf eine merkwürdige Art. In ihrem Land gibt es eine Quelle, die von ätzendem braunem Schlamm umgeben ist. Wenn einem Marranenjüngling der Bart zu wachsen beginnt, begibt er sich zu dieser Quelle, schmiert das Gesicht mit Schlamm ein und läßt es in der Sonne trocknen. Nach einigen Stunden fällt die Schlammkruste stückweise ab und nimmt für immer die Haare mit. Nach dieser Operation wird der Jüngling von seinen Angehörigen mit Liedern und Tänzen empfangen. Erst dann erhält er die Bürgerrechte und darf heiraten.«
»Wirklich merkwürdig«, murmelte Urfin.
Eot Ling setzte seinen Bericht fort.
Im Land der Marranen gebe es oft Gewitter. In den zehn Tagen seines dortigen Aufenthaltes hatten sich zwei Gewitter entladen.
Die Gewitter im Springerland seien schrecklich. Ununterbrochen blitze und donnere es. Das Krachen des Donners, von den Hängen zurückgeworfen, vermische sich mit dem eigenen Echo zu einem ohrenbetäubenden Getöse. Dabei gieße es in Strömen. Die Blitze schlagen oft in die Strohhütten ein und setzen sie in Brand. Dann stürzen die Einwohner hinaus und blicken mit schreckgeweiteten Augen in die lodernden Flammen, die sie nicht zu löschen wagen, da sie das Feuer für eine strafende Gottheit halten, vor der sie sich verneigen. Es sei noch keinem Marranen eingefallen, das Feuer in seinem bescheidenen Haushalt zu nutzen.
›Großartig‹, dachte Urfin. ›Damit läßt sich allerhand anfangen!‹
In der Mitte des Tals liege ein großer, aber seichter See, auf dem üppig Schilfrohr wachse, fuhr Eot Ling fort. Im Schilf hausen unzählige Enten. Nach der Brutzeit, solange die Entenjungen noch nicht fliegen können, veranstalten die Marranen Massenjagden auf sie, bei denen sie Schleudern benutzen. Die Beute werde eingesalzen und in natürlichen Kellern aufbewahrt – das sind Höhlen, die tief in die Berge hineinreichen.
Um den See breiten sich fruchtbare Felder, die die Springer mit Weizen bebauen. Sie backen kein Brot, weil sie kein Feuer zu machen verstehen. Sie zermahlen die Körner mit Mühlsteinen, und aus dem Mehl, das sie mit kaltem Wasser anrühren, bereiten sie einen Brei, den sie essen.
»Sie sind mein!« rief Urfin. »Wenn ich ihnen beibringe, wie man Enten brät und Brot bäckt, werden sie mich für einen großen Wundertäter halten und mir überallhin folgen.«
Trotz dieser kargen Nahrung seien die Marranen kerngesund und sehr kräftig. Sie haben viel freie Zeit, die sie dem Sport widmen: dem Springen, Laufen und vor allem dem Faustkampf.
Die Boxkämpfe seien dort sehr beliebt. Die furchtbaren Hiebe könnten einen Stier umwerfen, ihnen aber machen sie nichts aus. Die Marranen haben eine komische Art, den Sieger auszuzeichnen. Er darf seine blauen Flecke mit dunklem Lehm untermalen und sie stolz zur Schau tragen. Der Besiegte hingegen ist verpflichtet, die Spuren zu verbergen und sie so schnell wie möglich zu heilen. Einen Besiegten, dem es einfallen würde, sich mit seinen Verletzungen zu brüsten, würde man als schamlos bezeichnen.
Die Marranen seien leidenschaftliche Zuschauer der Sportkämpfe, richtige Fans, die oft wetten, welcher Boxer oder Läufer gewinnen werde. Da sie Geld nicht kennen, zahle derjenige, der die Wette verloren hat, mit der eigenen Freiheit. Im Laufe eines oder zweier Monate, manchmal auch länger, müsse er dann für den glücklichen Gewinner arbeiten: Ihm eine neue Hütte bauen, für ihn das Feld bestellen, Getreide mahlen oder Enten fangen und einsalzen.
Wer für eine Zeitlang die Freiheit verloren habe, werde durch ein besonderes Mal gezeichnet: Mit dem ätzenden Saft der Wolfsmilch werde auf seiner Stirn ein senkrechter Strich gezogen, der lange haftenbleibt. Vergeht das Zeichen, ehe die Frist der Unfreiheit abgelaufen ist, so wird es erneuert. Mancher Tropf, der es mit dem Wetten zu weit treibe, bleibt jahrelang in Unfreiheit, und das Zeichen der Sklaverei frißt sich für immer in seine Haut ein.
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