»Warum lebst du dann im Wald, weit von der Schar deiner Stammesgenossen?« fragte Karfax verwundert.
»Siehst du, ich möchte nicht nur einem Dorf helfen«, erwiderte Urfin schlau. »Gelänge es mir, mich an die Spitze eines ganzen Volkes zu stellen, dann könnte ich alle meine Fähigkeiten entfalten und zeigen, was in mir steckt.«
»Wer hindert dich denn daran, Stammesältester zu werden?« fragte der vertrauensselige Adler.
»Meine Mitbürger verstehen mich nicht«, erwiderte Urfin listig. »Sie denken, ich begehre die Macht aus Ehrgeiz, und begreifen nicht, daß ich mir ein viel höheres und edleres Ziel gesteckt habe.«
Schließlich glaubte der Adler, daß Urfin wirklich ein edler Mensch sei, und erklärte sich bereit, ihm zu helfen, eine hohe Stellung unter den Menschen einzunehmen, damit er recht viel Gutes tun könne.
›So, das wäre nun geschafft‹, dachte Urfin. ›Jetzt muß ich mir nur noch einfallen lassen, wie ich mit Hilfe des Riesenvogels die Macht zurückerobere.‹
›Ein Krieg kommt nicht in Frage… Würde ich Karfax um meiner Erhöhung willen bitten, auch nur einen Menschen zu töten, dann wäre ihm meine Absicht sofort klar. Wer weiß, ob er mich dann wegen des Betrugs nicht zerfleischt…‹
Urfin stellte sich mit Grauen vor, wie der ungeheure Vogel über ihn herfallen würde. ›Ich muß mir eben etwas Gescheiteres einfallen lassen. Wie, wenn ich mich mit Hilfe des Adlers zum Herrscher eines rückständigen Volkes mache? Habe ich das Volk einmal in meiner Hand, so werde ich auch eine Armee und Waffen besitzen… Oh, dann hütet euch, Scheuch und Holzfäller!‹
Urfin überlegte, in welchem Teil des Landes er am leichtesten die Herrschaft erringen könnte. Da kamen ihm die Springer in den Sinn.
Das kriegerische Volk der Springer lebte in den Bergen zwischen dem Großen Fluß und dem Besitztum Stellas. Noch war es niemandem gelungen, das Land der Springer zu durchqueren, denn sie ließen niemanden ein.
Als Elli während ihres Aufenthaltes im Zauberland in Begleitung ihrer Freunde – des Scheuchs, des Eisernen Holzfällers und des Tapferen Löwen – in das Gebiet der guten Fee Stella zog, lag ihnen das von Bergen umgebene Land der Springer als unüberwindliches Hindernis im Wege. Der Scheuch und der Löwe versuchten, die Berge zu besteigen, wurden aber von den mächtigen Fäusten der Springer niedergeschlagen. Elli und ihre Gefährten hätten das rosa Schloß Stellas niemals erreicht, besäße Elli nicht den Goldenen Hut, der ihr Macht über die Fliegenden Affen verlieh. Das Mädchen rief die Fliegenden Affen herbei, und diese trugen es mit seinen Gefährten durch die Luft zu Stella. [4] Das ist ausführlich im Buch “Der Zauberer der Smaragdenstadt" erzählt worden.
Vor vielen Jahrhunderten lebten die Marranen (so nannten sich die Springer) in einem unterirdischen Land am Ufer eines Flusses, der in den Mittelsee mündete. Der Überlieferung nach hatten sie dort Zuflucht gefunden vor starken Feinden, die sie von allen Seiten bedrängten. Dort, zwischen den Felsen, hatten die Marranen eine Stadt erbaut, deren Ruinen Elli Smith und Fred Cunning sahen, als sie ihre lange und gefährliche Reise im Schoß der Erde beendeten.
In jener weit zurückliegenden Zeit wußten die Marranen noch, wie man Feuer erzeugt. Sie fertigten eiserne Werkzeuge an, trieben Fischfang und jagten Sechsfüßer, die in der Umgebung in Überfluß vorhanden waren. Mit der Zeit hatten sich die Marranen aber so stark vermehrt, daß ihre Nahrung – Fisch und Wildfleisch – nicht mehr ausreichte. Ackerbau konnten sie aber nicht treiben, weil dies auf dem felsigen Boden nicht möglich war.
Da verließen die Marranen unter der Führung des Fürsten Gron ihr düsteres Land. Sie versuchten zuerst, den unterirdischen Erzgräbern einen Teil ihrer weiträumigen Ebene abzuringen, aber die Krieger der sieben Könige schlugen den Überfall der Springer zurück, und diesen blieb nichts anderes übrig, als auf der Erdoberfläche ihr Heil zu suchen.
Das Leben in der oberen Welt war für die Marranen nicht leicht. Ihre an das ewige Halbdunkel der Höhle gewöhnten Augen konnten sich monatelang dem grellen Tageslicht nicht anpassen. Deshalb bewegten sie sich nur nachts. Halbblind irrten sie lange durch das Zauberland, kamen in Schlachten mit der eingeborenen Bevölkerung um, fielen wilden Tieren zum Opfer, starben vor Hunger und ertranken beim Überqueren der Flüsse. So vergingen mehrere Jahre.
Auf ihrer Wanderschaft verwilderten die Marranen, verloren ihr Handwerkszeug und verlernten es, das Feuer zu nutzen. Schließlich kam Fürst Gron mit einer kleinen Gruppe von Flüchtlingen in ein verlassenes Tal, das ihnen auf Jahrhunderte als Zufluchtsstätte dienen sollte. Hier vermehrten sie sich wieder, blieben aber auf einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe.
Die Erinnerung, daß ihre Ahnen einst in einer düsteren Welt gelebt hatten, wurde zuerst den Kindern überliefert und verwandelte sich dann in Sagen, die nach und nach in Vergessenheit gerieten. Die Marranen hatten so lange in völliger Abgeschiedenheit gelebt, daß die Menschen in anderen Teilen des Zauberlandes über sie nur sehr wenig wußten.
Auch Urfin Juice hatte nur eine vage Vorstellung von den Marranen. Er wußte nicht, wie ihre Häuser aussahen, wovon sie sich ernährten, welchen Leidenschaften sie frönten und womit man auf sie Eindruck machen konnte. Vor ein starkes und unabhängiges Volk konnte er aber nicht hintreten, ohne zu wissen, was ihn dort erwarte.
›Ich werde alles genau auskundschaften müssen‹, dachte Urfin. Aber wer sollte ihm Kundschafterdienste leisten? Er selbst konnte nicht hingehen, denn er mußte unerwartet vor den Springern auftauchen, als ihr Herr und Gebieter. Sollte er Meister Petz hinschicken? Das ging nicht. Der Bär war zu schwerfällig und ungeschickt, zudem fehlte ihm die Gabe, sich zu verbergen und zu verstellen, was für einen guten Kundschafter unerläßlich ist. Da fiel Urfins Auge auf den Holzclown. ›Der ist der Richtige‹, dachte Juice.
Er erinnerte sich, wie der Clown ihm bei der Belagerung der Smaragdenstadt geholfen hatte. Mehrere Angriffe der Holzsoldaten waren damals zurückgeschlagen worden, und Urfin befand sich in einer sehr schwierigen Lage. Da hatte er den Einfall, den Clown über die Mauer zu werfen. Der listige Eot Ling konnte einen reichen Bürger zum Verrat überreden, und der öffnete den Belagerern nachts das Stadttor.
»Eot Ling, komm her!« befahl Urfin. Der Clown trippelte beflissen auf seinen Herrn zu.
»Da bin ich, Gebieter!«
»Hör zu. Ich habe einen sehr wichtigen Auftrag für dich.«
Urfin weihte den Clown in seine Pläne ein und erklärte ihm, was er zu tun habe. Eot Ling aber wandte ein:
»Das Land der Springer liegt sehr weit von hier, Herr! Es wird eine lange und gefährliche Reise sein.«
»Karfax braucht für den Weg nur ein paar Stunden. Er wird dich hintragen, und du wirst alles ausspionieren.«
Von nun an warteten Urfin und sein Diener Eot Ling ungeduldig auf die Genesung des Adlers. Der Riesenvogel fraß jetzt die Kaninchen und Hasen, die der Bär regelmäßig herbeischaffte, bis auf das letzte Knöchelchen. Karfax hatte den gutmütigen Bären, der ihn so wacker versorgte, liebgewonnen.
Schließlich kam der Tag, an dem der Adler zum erstenmal nach seinem Sturz einen Flugversuch unternahm. Als er in geringer Höhe über dem Wald flog, zitterten unter seinen riesigen Schwingen die Wipfel der Bäume so heftig, daß die entsetzten Eichhörnchen auseinanderstoben. Mit jedem Tag flog nun Karfax immer weiter und höher, seine Kräfte nahmen zu, und bald war er so gut bei Kräften, daß er Urfin zu einem Spazierflug einlud.
Urfin willigte nur zaudernd ein. Er stellte sich vor, wie schrecklich es sein müsse, hoch in der Luft ohne eine andere Stütze als den Rücken des Adlers zu fliegen. ›Aber‹, dachte er, ›wenn ich mich dazu nicht entschließe, werde ich niemals das Land der Springer sehen, niemals die Macht erobern und mich niemals an meinen Feinden rächen können.‹ Urfin überwand seine Angst und gab seine Zustimmung.
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